Mittwoch, Dezember 11, 2024

Durch Corona: Aufwind für antisemitische Anastasia-Bewegung

Durch Corona:

Staatliche Stellen beobachten schon länger die Ausbreitung der antisemitischen, esoterischen Anastasia-Bewegung in Österreich. Durch die Corona-Pandemie hat sie neuen Zulauf erhalten, wie die Dokumentationsstelle Politischer Islam jüngst berichtete.

Wien, 09. November 2022 | Die Dokumentationsstelle Politischer Islam (DPI) warnt davor, dass die antisemitische Anastasia-Bewegung auch in Österreich durch die Corona-Pandemie Zulauf erhalten hat. Anhänger der Bewegung orientieren sich an dem zehnbändigen Buchreihe des russischen Schriftstellers Wladimir Megre, der als Ich-Erzähler Begegnungen mit der fiktiven Protagonistin und Einsiedlerin Anastasia beschreibt. Eine Schlüsselidee der Romane: Familien sollen auf einem Landsitz von etwa einem Hektar Fläche „in Harmonie mit der Natur“ leben und sich selbst versorgen.

Doch Anastasias „Weisheiten“, die Megre als Erzähler wiedergibt, sind voll von Verschwörungstheorien, Antisemitismus, Esoterik sowie unwissenschaftlichen Behauptungen. In Österreich hat die Bewegung laut DPI 2012 Fuß gefasst. Die Bundesstelle für Sektenfragen beobachtet sie seit mehreren Jahren. Sie sieht in der Bewegung Parallelen zu den Staatsverweigerern.

Einmal alles

Megre mische in seinen Romanen „bereits vorhandenes Gedankengut zusammen, würzt das mit einer ordentlichen Portion Antisemitismus und das Ganze wird noch aufgemischt mit russischem Patriotismus“, sagt Ulrike Schiesser, Psychologin bei der Bundesstelle für Sektenfragen. Vom Mythos von Atlantis über Ufologie bis hin zu Parapsychologie ist alles dabei. Noch dazu widerspreche sich Megre mit seinen Theorien auch von Band zu Band, seine „Lehre“ sei nicht stringent. Das mache die Bewegung so „gut anschlussfähig“, sagt Schiesser.

Sehnsucht nach einfachen Antworten

Dass die Bewegung für viele attraktiv ist, liegt auch an einer immer komplexer werdenden Welt, in der sich viele abgehängt oder überfordert fühlen. „Sie profitieren von einer Problemlage, die da ist, und bieten da scheinbar eine Antwort“, so Schiesser über jene, die die Lehren propagieren. Wie die DPI berichtet, werden die modernen Menschen als fremdgesteuerte „Roboter“ dargestellt, die nicht mehr kritisch denken können.

Die Anastasia-Bewegung hingegen nimmt für sich in Anspruch, die ‚Wahrheit‘ über eine angebliche, geheime Verschwörung“ zu kennen, wie in dem Bericht steht. „Die moderne Welt wird in Megres Romanen von dunklen Mächten beherrscht.“ Diese dunklen Kräfte stellen sich im Buch später als Priester der Leviten heraus. Die Leviten sind eines der zwölf Stämme des Volkes Israel, wie im Tanach überliefert ist.

„Derartiges Gedankengut wird in der ‚Anastasia‘-Szene meist unkritisch oder beschwichtigend rezipiert. Eine kritische Auseinandersetzung mit derartigen Aussagen ist in der „Anastasia“-Bewegung selbst nicht erkennbar“, stellte die Bundesstelle für Sektenfragen 2017 fest.

Anastasialand in Österreich

Ein zentrales Organ der Bewegung gibt es nicht, dementsprechend verstreut sind die Anhänger und dementsprechend individuell die Versuche, die Lehre in die Tat umzusetzen. In Oberösterreich hat ein Bauer seinen Hof mit etwa 0,6 Hektar Fläche zum „Anastasialand“ erklärt.

Aber die Idee von neu gegründeten Familien-Landsitzen, die sogar zu ganzen Siedlungen zusammengeschlossen werden, habe in Österreich bisher nicht erfolgreich umgesetzt werden können, erzählt Expertin Schiesser. Sie seien „an den Realitäten des Lebens“ gescheitert: Kaufverträge, baupolizeiliche Bestimmungen oder gar die Finanzierung. Auch die 2021 im Burgenland gegründete „Akademie Elysion“, die als „Kongress & Naturerlebnisdorf“ geplant war, scheiterte jüngst am Grundstück-Kauf. Man konnte das Geld dafür nicht aufbringen, wie Gründer Norman Kosin im September auf YouTube erklärte. Das Projekt liefe weiter, er wolle sich Neuem zuwenden.

In einer Telegram-Gruppe mit immerhin über 1.000 Mitgliedern tauschen sich Anastasia-Anhänger weiterhin über die Gründung von Landsitzen, erfolgreiche Siedlungsprojekte im Ausland und Aussteiger-Fantasien, Esoterik und Alternativ-Medizin, aber auch Alltägliches aus.

Entkopplung von der Gesellschaft

In den Selbstbeschreibungen diverser Landsitz-Initiativen überwiegt die romantische Vorstellung von einer Rückkehr der „Stadtmenschen“ zu ihren Wurzeln, der Selbstversorgung und eines Lebens im Einklang mit der Natur. Dabei wird schon bei Kindern angesetzt. Diese werden aus dem Regel-Schulbetrieb genommen und sollen stattdessen in speziellen Einrichtungen oder überhaupt zu Hause „natürlich lernen“ und von den „schlechten“ Einflüssen der Gesellschaft rein gehalten werden.

Im Tätigkeitsbericht der Bundesstelle für Sektenfragen für das Jahr 2017 heißt es: „Hier trifft diese Konjunktur von Esoterik auf eine stetig anwachsende Kritik am klassischen Schulsystem, vor allem bei öffentlichen und staatlichen Schulen.“

Verquere Reinheitsgebote

Eltern aus der Szene wollten ihre Kinder von „schädlichem Einfluss“ fernhalten und schicken sie etwa in sogenannte „Lais-Schulen“. Diese Einrichtungen sind bereits öffentlich in Kritik geraten, weil etwa Lehrpersonen keine anerkannte pädagogische Ausbildung hätten und es keinen Lehrplan gebe, wie die Bundesstelle für Sektenfragen 2015 berichtete. Schulpflichtige Kinder, die dort „unterrichtet“ werden, müssen am Ende des Schuljahres Externistenprüfungen ablegen, wie auch andere Kinder, die zu Hause unterrichtet werden. Wie ein „News“-Bericht aus dem Jahr 2018 nahelegt, schneiden Kinder von „Lais-Schulen“ dabei besonders schlecht ab.

Das Vorstellung von Reinheit in der Anastasia-Bewegung wird auch auf die Sexualität der Frau übertragen. Megre schreibt in seiner Buchreihe, der erste Sexualkontakt einer Frau habe Auswirkungen auf Aussehen und Charakter später gezeugter Kinder. Diese Vererbungs-Theorie namens Telegonie ist längst wissenschaftlich widerlegt worden.

„Nicht nur harmlose Öko-Träumer“

Schiesser warnt davor, die Bewegung nicht ernst zu nehmen: „Es ist sinnvoll, wirklich hinzuschauen. Das sind nicht nur harmlose Öko-Träumer, die sich zurückziehen und ein spirituell-ökologisches Leben führen wollen.“ Isolationistische Bewegungen müsse man immer im Auge behalten. Aussteiger-Projekte in der Vergangenheit hätten sich vor allem durch die Vorstellung eines Paradieses ausgezeichnet. „Das ist schon anders, ob ich sage, ich habe eine positive Gesellschafts-Utopie, die ich verwirklichen will, oder ob ich mir eine Schutzblase aufbaue, ganz stark verbunden mit Feindbildern und Verschwörungstheorie“, so Schiesser.

(pma)

Titelbild: Pixabay/David Mark

Autor

  • Pia Miller-Aichholz

    Hat sich daran gewöhnt, unangenehme Fragen zu stellen, und bemüht sich, es zumindest höflich zu tun. Diskutiert gerne – off- und online. Optimistische Realistin, Feministin und Fan der Redaktions-Naschlade. @PiaMillerAich

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