Samstag, Juli 27, 2024

Nehammer ist kein Milchmädchen

Dreibund gegen Brüssel:

Sebastian Kurz hat als Profi auf hohem Schlawinerniveau all das getan, was Nehammer und Wöginger als Stümper verwursteln. Jetzt, im Winter, wird das gefährlich.

 

Wien, 20. November 2022  Es ist eine Milchmädchenrechnung: Die Bundesregierung verzichtet bei der Besteuerung der Kriegsgewinne der Energiekonzerne auf mindestens fünf Milliarden Euro. Mit diesem Geld könnten die Spitäler von Wien bis Salzburg in letzter Minute vor dem Zusammenbruch gerettet werden. Es gibt nur ein Problem: Karl Nehammer ist kein Milchmädchen.

Gas und Pflegepersonal – beides ist knapp. Aber warum wird das eine sprunghaft teurer und das andere nicht? Darauf gibt es eine einfache marktwirtschaftliche Antwort: Wenn Strom und Gas das Fünffache kosten, dann zahlt der Konsument dieses Fünffache. Niemand hat Anspruch auf einen Strompreis, der sich aus Produktionskosten und einem moderaten Gewinn zusammensetzt. Wenn es die Marktsituation möglich macht, wird uns die Preispistole angesetzt. Wenn wir nur noch die Freiheit haben, zwischen Frieren und Zahlen zu wählen, nennt man das „freie Marktwirtschaft“.

Spitals-Kollaps

Beim Pflegepersonal ist das anders. Unser Gesundheitssystem hält immer noch sein Versprechen, dass wir für unsere Sozialversicherungsbeiträge eine Garantie haben: Wir werden behandelt, wenn wir krank oder verletzt sind. Der Direktor des AKH kann seine Bettenpreise nicht an den Gaspreis koppeln. Wenn also das AKH nicht darf, was für den Verbund normal ist, kann es junge, gut ausgebildete Krankenschwestern, die schon nach wenigen Monaten aus einem überfordernden und unterbezahlten Beruf flüchten, nicht mit drastischen Lohnerhöhungen zurückholen – oder ihnen für kürzere Arbeitswochen, mit denen sie ohne Burn Out über die Runden kommen, volle Gehälter zahlen.

Nehammer ist kein Milchmädchen. Er stellt nicht fest, dass Pflegepersonal wichtiger ist als Konzernpflege. Er holt sich das Geld für die Krankenschwestern nicht von den Konzernen, die dann in etwas weniger Geld schwimmen. Ich weiß nicht, ob Nehammer weiß, dass Teile des Spitalssystems vor dem Zusammenbruch stehen. In diesem Winter droht damit erstmals der Kollaps eines zentralen Systems.

Dreibund gegen EU

Nehammer ist inkompetent, aber er ist nicht blöd. Er weiß, dass er nicht tatenlos zusehen kann. Er will aber auch das nicht tun, was sogar auf seiner Hand liegt: Die Kriegsgewinne von OMV bis Verbund zu hundert Prozent besteuern und das Geld zu denen umleiten, die sonst die Rechnung zahlen: zu der Mehrheit der Menschen, die man in solchen Situationen nicht zufällig nur „Steuerzahler“ nennt.

Der Kanzler erinnert sich, dass es da etwas gab, was immer funktioniert hat, wenn nichts mehr gegangen ist: die „Balkanroute“. Also schließt er sie, auch wenn sie nicht offen ist. Dazu gründet er einen Dreibund mit Ungarns Viktor Orbán und Serbiens Aleksandar Vučić, den rabiaten Feinden der EU. Im Gegensatz zu Nehammer hat Orbán geplant, was er tut. Der ungarische Halbdiktator will die EU-Milliarden von Nettozahlern wie Österreich und setzt dazu auf nationale Mobilisierung gegen „Brüssel“. Er weiß, dass ihn die Hand, die er beißt, noch lange füttern wird.

Anders als Ungarn würde Österreich von einem europäischen Asyl-Ausgleich profitieren. Aber soweit denkt Nehammer nicht. „Das EU-Asylsystem ist gescheitert“, meldet der regierende Unteroffizier, der vielleicht nicht weiß, dass sein Österreich das Entstehen genau dieses Systems, das Österreich braucht, verhindert hat. Von rechts drängt die FPÖ, also muss er dorthin. „Rechts um!“ Das gehört zu den Kernsätzen, die Nehammer beim Militär gelernt hat.

Sargnägel für Brüssel

Parteifreunde wie Klubobmann August Wöginger reichen ihm dazu das Wasser. Die Menschenrechtskonvention solle eingeschränkt werden. Das ist die Konvention, die etwa in Artikel 6 Ziffer 2 die Unschuldsvermutung und damit noch ein paar Monate politisches Überleben für Wöginger garantiert. Wöginger hat sie mit der Genfer Flüchtlingskonvention verwechselt. Aber das ist egal, Konvention ist Konvention, weg damit. Wo gehobelt wird, fallen Rechte, aber nur, wenn sie Linke oder Flüchtlinge sind.

Sebastian Kurz hat als Profi auf hohem Schlawinerniveau all das getan, was Nehammer und Wöginger jetzt als Stümper verwursteln. Dabei wissen sie im Gegensatz zu Kurz nicht, was sie anrichten. Sie verpassen den Zeitpunkt, an dem das Gesundheitssystem noch zu stabilisieren wäre; sie setzen Hunderttausende unnötig der Energiepreis- und Inflationslawine und damit neuer Armut aus; und sie reihen Österreich neben Polen und Italien in die Front antieuropäischer Marodeure ein.

Es sind nicht die Kickls und Le Pens, sondern die Orbáns und Nehammers, die die Sargnägel in die Union treiben. Orbán tut es, weil er weiß, was er will. Nehammer weiß längst nicht mehr, was er tut.

Titelbild: APA Picturedesk

Autor

  • Peter Pilz

    Peter Pilz ist Herausgeber von ZackZack.

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