Mittwoch, April 24, 2024

Kein Recht auf Schule

Das ist eine Unterüberschrift

Kinder mit Behinderung dürfen oft nur zehn Jahre zur Schule gehen. Wie Eltern das ändern wollen und was die Schule für Anton und Selma bedeutet.

Stefanie Marek

Wien, 28. November 2022 | Sobald der dreizehnjährige Anton den Block und den Stift sieht, schnappt er der Autorin dieses Textes beides aus der Hand, legt den Block auf die Küchentheke und beginnt sorgfältig, etwas aufzuschreiben. „Das ist mein Name“, erklärt er. Seinen Namen schreiben – das macht er in der Schule besonders gern. Manchmal hört Anton gar nicht mehr auf zu schreiben. Heute schon. Er hat viel zu erzählen. Mal setzt er sich dabei im Schneidersitz auf den Küchentisch, mal wackelt er mit einem Sessel. Seine Finger mit den bunt lackierten Nägeln sind immer beschäftigt.

Anton besucht eine Sonderschule in Wien. Er hat eine Entwicklungsverzögerung. Er lernt langsamer als andere Kinder, aber er lernt stetig dazu. Vor kurzem hat er angefangen zu schreiben, die Zeitspanne, in der er sich am Stück konzentrieren kann, ist viel länger als früher, erzählt seine Mutter stolz. Doch mit den Fortschritten könnte es bald vorbei sein.

Antrag abgelehnt

Kinder, die wie Anton sonderpädagogischen Förderbedarf haben – das betrifft zum Beispiel auch Kinder mit Trisomie 21, Autismus oder ADHS –, haben in Österreich kein Recht auf ein 11. und 12. Unterrichtsjahr. Die jeweilige Schuldirektion kann zwar ein zehntes Jahr erlauben, für zusätzliche Jahre müssen die Eltern Anträge bei der entsprechenden Schulbehörde stellen und es braucht die Zustimmung des Schulerhalters. Diese Anträge werden aber häufig abgelehnt. Manchmal kommt die Ablehnung in Form eines einzeiligen Emails, das darüber informiert, dass es keinen Schulplatz mehr für das Kind gibt – ohne Begründung, erzählen betroffene Eltern.

Wie oft bewillig wird, scheint von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich zu sein. Von der Bildungsdirektion Steiermark heißt es, dass 69 Anträge für dieses Schuljahr gestellt wurden, bewilligt wurden alle.  Laut Bildungsdirektion Wien wurden in Wien 312 Anträge für das Schuljahr 2022/23 gestellt und 118 davon wurden abgelehnt. Das ist beinahe jedes zweite Ansuchen. Laut Behörde hätten die abgelehnten Anträge die Kriterien für einen verlängerten Schulbesuch nicht erfüllt, zum Beispiel, dass die neunte Schulstufe nicht positiv abgeschlossen wurde, oder Ansuchen erübrigten sich, weil Eltern sich nach anderen Möglichkeiten im Anschluss an die Pflichtschulzeit umgesehen hätten.

Es gäbe außerdem kein Budget vom Bund über die neun Pflichtjahre hinaus: Die Deckelung des sonderpädagogischen Förderbedarfs auf 2,7 Prozent verhindere, dass es bedarfsgerecht Lehrerplanstellen auch für verlängerten Schulbesuch gibt, so die Bildungsdirektion Wien. Die Bildungsdirektionen müssen auf Basis der Gesetze handeln und diese sehen nicht mehr als neun Schuljahre für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf vor, daher gäbe es auch keinen Lehrplan, hieß es auf eine Anfrage von ZackZack.

Kaum Regelung für Bewilligung

„Das Gesetz regelt nicht, unter welchen Voraussetzungen eine Genehmigung erteilt werden muss, oder abgelehnt werden darf“, kritisiert die Bürgerinitiative, die Antons Mutter Karin Riebenbauer mitinitiiert hat und die vergangene Woche im Parlament eingebracht wurde. Doch die zusätzlichen Schuljahre wären so enorm wichtig für die kognitive Entwicklung der Kinder und damit für ein möglichst selbstbestimmtes Leben.

Wenn Anton groß ist, will er Kellner werden und DJ wie sein Betreuer. Auf Spotify findet er die Lieder anhand der zugehörigen Bilder. Besonders gern mag er AC/DC, Techno findet er auch gut. „Kennst du das?“, fragt er und spielt „Cordula Grün“ von seinem iPod ab. Er wippt und singt mit, bevor er zum nächsten Song springt.


Anton hat vor kurzem zu schreiben begonnen (Bild: Privat)

Er schreibt zum Beispiel seinen Namen oder den seiner Mitschülerin Zoe (Bild: Stefanie Marek)

Wie das für ihn wäre, wenn er nicht mehr in die Schule dürfte? „Das wäre nicht schön“, sagt Anton ein wenig niedergeschlagen und spielt mit dem Stift in seiner Hand. „Ich würde trotzdem hingehen.“, meint er entschlossen zu seiner Mutter. Sie schüttelt den Kopf, während er die Namen der anderen Kinder aufzählt, die er dort jede Woche sehen kann.

Karin Riebenbauer stört eines besonders: „Es wird ihm ja nicht nur das 11. und 12. Schuljahr verwehrt, sondern auch der Kontakt zu anderen Kindern. Man verzichtet im Sozialen auf alles, was die anderen haben.“ Für viele Familien bedeuten abgelehnte Anträge auch Existenzschwierigkeiten, auch weil einige Eltern dann mit den Kindern zuhause bleiben müssen. Denn auch Tageswerkstätten hätten oft nur bis mittags offen und privater Unterricht kostet.

Verletzung von UN-Behindertenrechten

Dass Kinder ohne Behinderung länger in die Schule gehen dürfen aber Kinder mit erhöhtem Förderbedarf nicht, verletzt die Richtlinien der UN-Behindertenrechtskonvention, zu der sich Österreich bereits 2008 verpflichtet hat, betont die Bürgerinitiative. Genauer, Artikel 24 der UN-Konvention. Darin geh es um das Recht von Menschen mit Behinderung auf Bildung.

Die Initiative, die man unterstützen kann, will Gesetzesänderungen erreichen und fordert einen Rechtsanspruch auf ein 11. und 12. Schuljahr sowie das Schulpflichtgesetz so zu ändern, dass Kinder mit Entwicklungsverzögerung ein bis zwei Jahre später eingeschult werden können. Sie fordern außerdem mehr Budget, mehr Ausbildungsplätze für Fachkräfte und sonderpädagogische Angebote in der Sekundarstufe 2. Vergangene Woche hat die Bürgerinitiative rund 35.000 Unterschriften im Nationalrat eingereicht. Wenn das nicht funktioniert, wollen Antons Eltern und noch einige andere das Menschenrecht auf Bildung mit einer Klage gegen die Republik einfordern.

„Selma, du kannst es!“

Ein Kind, das die zusätzlichen Jahre in der Schule verbringen konnte, ist die mittlerweile 18-jährige Selma. Vor dem Sommer hat sie ihr 12. Schuljahr an einer privaten Volksschule mit Öffentlichkeitsrecht in der Nähe von Graz beendet. Ihre Mutter Doris Fasser ist davon überzeugt, dass diese Jahre entscheidend für die Entwicklung ihrer Tochter waren.

Selma ist während des Gesprächs nicht da – sie ist mit ihrer Assistentin unterwegs und schnuppert in Möglichkeiten für ein zukünftiges Berufsleben hinein – aber Frau Fasser zeigt ein Video von der Schulabschlussfeier. Selma ist zu sehen, wie sie die Arme hebt und laut „Ja!“ ruft. Für jedes Volksschulkind singen Kinder und Eltern dasselbe Lied, begleitet von einer Lehrerin an der Gitarre. Doris Fassers Tochter ist als erste an der Reihe und der Text geht so: „Selma, du kannst es! Selma, du schaffst es! Selma, du weißt es! Selma, du machst es!“. Als die anderen Kinder dran sind, sitzt Selma am Boden und feuert sie an, mit den Armen schwingt sie zur Musik.

Doris Fasser und ihre Tochter Selma (Bild: privat)

Selma hat eine starke Entwicklungsverzögerung und eine körperliche Behinderung. „Für sie sind Gruppen, von denen sie lernen kann, wichtig. Die Schule war dafür das ideale Setting“, erzählt ihre Mutter. „Sie hat gelernt zuzuhören, wann sie laut sein darf und wann nicht. Schreiben und Rechnen sind für sie nicht interessant, aber Zeichnen und Malen sind es jetzt schon. Das war vorher nicht möglich.“ Hätte die kommunikative, offene Selma, die den Kontakt zu verschiedensten Menschen sucht, nicht weiter in die Schule gehen können, wäre das „extrem schwierig“ gewesen. Die einzige offizielle Möglichkeit: eine Tagesstätte.

„Zutrauen ist der Schlüssel“

Die Schule habe für Routine gesorgt, erzählt ihre Mutter. Sie habe auch die wertvolle Erfahrung machen können, anderen Kindern etwas beizubringen, weil Selma länger in der Volksschule war und die Abläufe kannte. „Jetzt ist sie ein sehr selbstbewusstes, offenes, junges Mädel, dem man viel mehr zutrauen kann“, konstatiert Doris Fasser stolz. „An das Thema Behinderung geht man oft mit der Defizitbrille ran, dabei sollte man mit den Stärken arbeiten. Den Menschen wird nichts zugetraut, aber gerade das Zutrauen ist der Schlüssel zum Erfolg.“

Selmas Schulweg war nicht einfach. Er habe vor allem von Einzelpersonen abgehangen. Die Schule hatte keine Erfahrung mit Kindern mit Behinderung. Es sei unglaublich wichtig gewesen, dass die Direktorin „absolut auf unserer Seite“ war. Vorerst bekam Selma nur für das elfte Schuljahr eine Verlängerung. Auch durch das Engagement der Direktorin und einen Wechsel in der Bildungsdirektion sei später schließlich ein zwölftes Jahr möglich gewesen. Es bleibt für Doris Fasser das Gefühl: „Man ist meistens Bittsteller und ständig von sogenannten Experten umgeben, ganz selten auf Augenhöhe.“

„Die Politik sollte für alle da sein“

Auch Karin Riebenbauer kennt das Gefühl, eine Bittstellerin zu sein.  „Diese Kinder sind Teil der Gesellschaft.“, sagt Antons Mutter und ihre Stimme zittert leicht. Sie wischt sich die Augen hinter der Brille mit dem dünnen, weißen Rahmen. Sie ist entschlossen, weiter dafür zu kämpfen, dass betroffene Familien nicht diskriminiert werden: „Die Politik sollte für alle da sein und nicht auf ein paar vergessen. Diese Kinder sind da, aber sie werden ausgegrenzt.“

Karin Riebenbauer kämpft für ihren Sohn und alle anderen betroffenen Familien (Bild: Christopher Glanzl)

Für Frau Riebenbauer ist klar: Das System gehört geändert. Wieso sollte es das Problem der Eltern und Kinder sein, dass es zu wenig Schulplätze und Ressourcen gibt? „Wenn wir überall lesen wie viele Millionen da und dort ausgegeben werden, wieso gibt es dieses Geld nicht für die Kinder?“

Auf dem hölzernen Küchentisch liegt Bastelmaterial für einen Adventkalender. Anton schnappt sich eine Papierrolle und benutzt sie gut gelaunt als Lautsprecher. Vielleicht werden er und seine jüngere Schwester in den nächsten Tagen Bilder auf die Papierbeutel für die einzelnen Tage malen. Vielleicht schreibt Anton auch seinen Namen darauf.

Update: Ergänzt um die Auskünfte der Bildungsdirektionen Wien und Steiermark am 28.11.2022 um 21 Uhr. 

Titelbild: ZackZack/Christopher Glanzl

Stefanie Marek
Stefanie Marek
Redakteurin für Chronik und Leben. Kulturaffin und geschichtenverliebt. Spricht für ZackZack mit spannenden Menschen und berichtet am liebsten aus Gerichtssälen.
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9 Kommentare

  1. Wien scheint bei diesem hier angesprochenen und detailiert beschriebenen Problem also das unsozialste Bundesland zu sein?

  2. Wie passt das mit der Ausbildungspflicht bis 18 Jahre zusammen? Gilt die für Sonderschüler nicht oder wie? Ich dachte es gäbe Gesetze die eine Diskriminierung von solchen Menschen verhindern sollen? In Österreich scheint man davon noch nix gehört zu haben. Wahrscheinlich muss sich das Recht erst jemand einklagen bevor unser ewig gestriges Unterrichtsministerium in die Gänge kommt und aus seinem Tiefschlaf erwacht.

  3. Nur als korrigierende Information: ADHS gibt es nicht, das ist eine erfundene Diagnose zur Förderung von Medikamentenverkäufen.

        • Ich übrigens auch Herr Toni und ich habe mich auch mit dem Thema Ritalin und Co. befasst. Im Gegensatz zu ihnen vergesse ich aber nicht, was eine vermurkste Bildungskarriere für das spätere Leben dieser Kinder bedeutet. Denn der Spruch “Was Hänschen nicht lernt……” ist leider sehr wahr.

          • Was ich vergesse oder nicht, dürften Sie wohl kaum wissen, obwohl Sie ja in der Regel davon ausgehen, alles zu wissen. Der Spruch vom Hänschen passt zu Ihrer Denkweise, die vornehmlich aus solchen Kalenderweisheiten und Überschriften zusammengesetzt ist. Alles oberflächlich, Geplapper, kein Tiefgang, aber eingebildet bis zum Platzen. Ein armes Psycherl halt.

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