Der Atem der Demonstrierenden ist lang. Sie holen immer noch Luft, um ihren Protest herauszuschreien in die Welt, die sie hören muss und nicht wegsehen darf, immer noch nicht.
Julya Rabinowich
Wien, 03. Dezember 2022 | Die Zahl der brutal ermordeten, entstellten, vergewaltigten, verprügelten Frauen und auch der diese Frauen unterstützenden Männer wächst mit jedem einzelnen Tag, an dem die Iran-Revolution andauert. Und sie dauert an. Der Atem der Demonstrierenden ist lang. Dieses Einatmen gleicht dem Einatmen von übererhitzter Luft, dem Einatmen von beißendem Rauch, aber sie holen immer noch Luft, um ihren Protest herauszuschreien in die Welt, die sie hören muss und nicht wegsehen darf, immer noch nicht.
Keine Möglichkeit für schützenden Rückzug
Trotz täglichen Terrors, trotz täglicher Tötungen, trotz unermesslichen Leides, das dieses Terrorregime über die Bevölkerung bringt, stehen Tag für Tag erneut Menschen auf Straßen, in U-Bahnen, auf Autos. Tag für Tag fluten die Fotos der Toten die Sozialen Medien, ihre Lebensgeschichten, die Umstände ihrer Auslöschung. Wenn man an jenen Punkt kommt, an dem man diese Bilder nicht mehr erträgt und wegklickt, sollte man bedenken, dass die Menschen im Iran keine Möglichkeit eines schützenden Rückzuges haben. Sie sind auf Gedeih und Verderb dem Regime ausgeliefert – und auch dem Hinblicken oder dem Wegblicken der Welt.
Diese darf all dieses Leid, all diese Toten nicht zu einer nicht und nicht abreißenden Flut im Fluss des Styx werden lassen, in dem einzelne Schicksale kurz an die Oberfläche gespült werden und dann wieder in den Stromschnellen untergehen: Der Familienvater mit zwei Kindern und liebevoll an ihn gekuschelten kleinen Hunden ebenso wie die lebensfrohe, schön geschminkte junge Frau, die vom Dach des Hauses, in das sie sich geflüchtet hatte, gestürzt wurde. Der Mann, dessen Bruder stundenlang mit seiner Leiche durch die Stadt kurvte, um sie vor dem Zugriff der Behörden zu schützen, die Sechsjährige, die auf dem Balkon ihrer Eltern spielte und der dort ins Auge geschossen wurde.
Die Hoffnung des Regimes
Es verschwinden Tag für Tag Menschen. Prominente und völlig unbekannte. Junge und alte. Inhaftierte werden zum Tod verurteilt. Das Regime folgt der Maxime Haar um Haar, Auge um Auge. Das Regime hofft darauf, dass irgendwann die ganze Welt blind sein wird. Blind für diese Verbrechen. Blind für die Schicksale dieser Menschen. Es liegt an allen, das nicht wahr werden zu lassen.
Sanktionen und Proteste sind das, was die Demonstrierenden jetzt von der Welt brauchen. Menschen im Iran halten über Angehörige und Bekannte, die ihre Videos und Geschichten weitertragen, wie zum Beispiel die mit schier unerschöpflichen Kräfte ausgestatte Shoura Hashemi, Kontakt mit Menschen in anderen Ländern. Sie hoffen auf unsere Stimmen. Am 7. Dezember findet im Wiener Gartenbaukino eine Solidaritätskundgebung statt, moderiert von Corinna Milborn. Lasst den Saal voll werden.
Titelbild: APA Picturedesk