Samstag, Juli 27, 2024

Aufwachen: Aus der Mitte der Gesellschaft

Staatsfeinde und Terroristen sind nicht nur Einsiedler, die hundert Jahre von Dosenravioli und Jagdwurstaufstrich leben wollen.

 

Daniel Wisser

Wien, 10. Dezember 2022 | Nach den Razzien bei Terroristen in Deutschland mit Verbindungen nach Österreich herrscht in den rechten Parteien Schweigen. Die meisten Medien üben sich darin, die Gefahr zu ignorieren oder durch Euphemismen wie Spinner, obskur, bizarr, irre kleinzureden. Oder aber sie nutzen die Berichterstattung zu Propaganda in anderer Sache, indem schon in den ersten Sätzen ihrer Artikel vor islamistischem Terror gewarnt wird. Mit Islamismus haben die Reichsbürger aber nichts zu tun.

Zu unbequem ist es, den Blick auf die Tatsache zu heften, dass die sogenannten Spinner aus der Mitte der Gesellschaft kommen, zum Teil im Öffentlichen Dienst stehen oder standen. In Berlin wurde diesen Mittwoch Birgit Malsack-Winkemann festgenommen, die Staatsbedienstete ist und Richterin am Landgericht Moabit war. Von 2017 bis 2021 war sie im Bundestag Abgeordnete der AfD, innerhalb der sie als gemäßigt galt. Staatsfeinde und Terroristen sind also nicht nur Menschen, die hundert Jahre von Dosenravioli und Jagdwurstaufstrich leben wollen.

Der Sturm auf das Capitol als Vorbild

Plötzlich wird personalisiert und von Einzelfällen gesprochen, während in der Frage von Asyl und Zuzug immer pauschalisiert wird. In einer Debatte über die 200 Asylsuchenden, die zurzeit in Spielfeld bei Kälte in Zelten leben, sagte jemand zu mir, er wolle keine straffälligen Asylwerber in unserem Land. Auf meine Frage, ob es denn einen Nachweis gäbe, dass eine dieser Personen straffällig geworden wäre, antwortete mein Gegenüber, das sei nicht der Fall, aber die Asylsuchenden müssten erst beweisen, dass sie nicht-straffällig sind. Die Umkehr der Beweislast – natürlich nur dort, wo man sie haben will – ist ein klassischer Fehler logischen Schließens unter Nationalisten, Rassisten und Faschisten. Ob er absichtlich begangen wird oder nicht, ändert nichts daran, dass es ein Fehler ist.

In der Bezugnahme der terroristischen Staatsfeinde Deutschlands auf den Sturm auf das Capitol in den USA am 6. Januar 2021 erkennen wir, dass wir es längst mit einem globalen Phänomen zu tun haben. Besonders gefährlich geworden ist es durch vormals konservativen Parteien, die inzwischen rechtsextremes Personal und Standpunkte haben. Wir sahen in den USA, wie ein Sicherheitsapparat, der immer wieder Menschen mit dunkler Hautfarbe bei Bagatelldelikten oder ohne erkennbare Gefahr erschießt, gegen hellhäutige Terroristen nicht einschreiten konnte. Oder nicht wollte. Denn die Unterwanderung der dortigen Polizei durch Rechtsextreme und Staatsfeinde ist kein Geheimnis mehr.

Destablisierung des Staates

Dass aktive und ehemalige Angehörige der Bundeswehr den sogenannten Reichsbürgern angehören, muss endlich zu Taten führen und nicht einfach dazu, die Betreffenden als Querdenker einzuordnen. Auch das Wort Querdenker ist ein Euphemismus. Es handelt sich bei den Staatsfeinden nicht um Denker, sondern um Terroristen. Ihre Ziele sind Gewalt, Mord und Unterdrückung.

In Österreich sind die treibenden Elemente ähnlicher Bewegungen seit 2020 immer wieder sichtbar geworden, nämlich im Zuge sogenannter Coronaproteste, mit denen, wie der SPIEGEL berichtet, auch viele Reichsbürger in Zusammenhang stehen. Man wird in Österreich angefeindet, wenn man davor warnt, sich mit Elementen zu solidarisieren oder zu demonstrieren, deren einzige Absicht die Destabilisierung des Staates und die Zerstörung der Demokratie ist.

Propaganda mit der Freiheit

Der Freiheitsbegriff, der von sogenannten Corona-Leugnern oder Impfgegnern immer wieder verwendet wird, ist ebenso ein Euphemismus und bezeichnet keine ideologisch liberale Einstellung. Denn geht es um die Erweiterung des Schengen-Raums, also um Reisefreiheit, ist denen, die mit ihrer Art von Freiheit Propaganda betreiben, der Freiheitsgedanke nichts mehr wert.

Die Weigerung, sich an die durch eine demokratische Mehrheit definierten Regeln zu halten (Verfassung, Gesetze, Verordnungen), zerstört den demokratischen Konsens. Eine Behauptung wie man sei durch das Tragen einer Atemschutzmaske in seiner Freiheit eingeschränkt, missversteht diesen Konsens absichtlich. Auch Ampeln, an denen man bei Rot stehen bleiben muss, schränken die Freiheit ein. Das Verhältnis von persönlicher Freiheit und gesellschaftlicher Organisation muss also in jedem einzelnen Fall dialektisch ermittelt und immer wieder diskutiert werden. Die Synthese, also den so entstandenen Konsens, zu respektieren, ist Bedingung für das Zusammenleben.

Mehrheit als Feindbild

Die Durchsetzung der Forderungen der Aufwiegler würde nicht zu größerer Freiheit führen; ganz im Gegenteil. Dem Gelingen ihrer zerstörerischen Tätigkeit wird ein autoritäres System folgen. Wer sich in diesem System gegen die Gesetze und Verordnungen erhebt, wird verhaftet und möglicherweise hingerichtet werden. Es ist typisch für Demokratiefeinde, das Zustandekommen demokratischer Regeln entweder zu leugnen oder Mehrheitsentscheidungen und die Mehrheit der Bevölkerung überhaupt zu disqualifizieren. »Die Majorität«, schreibt Adolf Hitler in Mein Kampf, »ist nicht nur immer eine Vertreterin der Dummheit, sondern auch der Feigheit.«

Lange dachte man, faschistische und autoritäre Bewegungen entstünden durch Armut. In den westlichen Ländern sieht man heute, dass sie auch im Wohlstand entstehen. Materieller Wohlstand ist nicht kultureller Wohlstand. Teilnahme an demokratischen Diskursen und das Akzeptieren demokratischer Entscheidungen sind wie auch die Fähigkeit logischen Schließens ein ideelles Gut. Man muss es sich aneignen und es pflegen.

Der Propagandabegriff der liberalen Demokratie

Leider hat die undemokratische Propaganda hier schon Erfolge erzielt. Besonders der Ausdruck liberale Demokratie, den nun auch schon Journalisten und sogar Sozialdemokraten verwenden, ist ein Beispiel dafür. Der Begriff ist ein Werk rechtsextremer Propaganda. Es handelt sich dabei um eine contradictio in adiecto. Eine Gesellschaftsform, in der sich Gruppen aus Menschen verschiedener Anschauungen bilden, die bei freien Wahlen konkurrieren, ist per se liberal. Eine illiberale Demokratie wäre eine Scheindemokratie und somit keine Demokratie. Nichtsdestotrotz hämmert man diesen Begriff seit 2017 durch die Medien täglich in unsere Köpfe. Und dass unsere Regierung mehrheitlich rechte und rechtsextreme Medien fördert und andere aushungert, ist bereits eine Vorbereitung auf Wahlkämpfe, die sie offensichtlich nicht fair austragen will. Wir haben solche Wahlen, bei denen es keine Wahl gibt, jüngst in Ungarn und Kasachstan verfolgt.

Demokratiefeindliche Umtriebe muss man früh erkennen – schon an der Sprache. Wir müssen ihnen wirksame Maßnahmen entgegensetzen und wohl auch Härte in der Bestrafung. Doch das ist nur der allerletzte Schritt, wenn es – wie in Deutschland – bereits zu Plänen zur Zerstörung des Staats gekommen ist. Radikalisierung zu verhindern bzw. ein kulturelles und politisches Klima zu schaffen, in dem es gar nicht zur Radikalisierung kommt, ist eine wesentliche Aufgabe der Demokratie.

Titelbild: ZackZack/Miriam Mone

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