Samstag, Juli 27, 2024

Aufwachen: Die Schildlausbürger

Österreichische Nationalstaatlichkeit oder Gemeinsam gegen die Gemeinschaft

Daniel Wisser

Wien, 17. Dezember 2022 | Eine der ersten Forderungen des 1986 zum FPÖ-Obmann gewählten Schildlausbürgers Jörg Haider war: Österreich muss der EG und der NATO beitreten. Von Nationalstaatlichkeit hielten Konservative und Rechte in den Achtzigerjahren nichts. Österreich müsse sich endlich den westlichen Bündnissen anschließen, hieß es damals. Und die SPÖ verhindere das.

Doch die SPÖ begann unter Vranitzky in einer großen Koalition mit der ÖVP das Land mit Umsicht, aber konsequent auf den Beitritt vorzubereiten. Noch im Jahr 1992 schrieb die FPÖ in ihrem EG-Leitfaden: „Die FPÖ ist bis heute die einzige österreichische Parlamentspartei, welche die Forderung nach einem EG-Beitritt in ihr Parteiprogramm aufgenommen hat.“ Und sie tadelte SPÖ und ÖVP für ihre zögerliche Europapolitik. Am Sonderparteitag der FPÖ im Jahr 1992 wandte sich Jörg Haider plötzlich gegen den EG-Beitritt. Die Mehrheit der Österreicher*innen folgte ihm nicht und stimmte am 12. Juni 1994 in einer Volksabstimmung mit einer Zweidrittelmehrheit für den EG-Beitritt.

Fasching und Aschermittwoch

Mit 1. Januar 1995 wurde Österreich Mitglied der Europäischen Union. Wie groß wäre der Aufschrei gewesen, wären wir es nicht geworden! Stellen wir uns vor, der Euro wäre 1999 eingeführt und 2002 auch als Bargeld ausgegeben worden und Österreich wäre nicht in der EU gewesen. Stellen wir uns vor, der Schilling wäre daraufhin im Wert gegen den Euro gefallen – was wäre da los gewesen? Doch heute sind die Aufbruchsstimmung der Neunzigerjahre und das Profitieren von der Union vergessen. Und in Österreich ist die Ausprägung eines akkuraten Langzeitgedächtnisses unterentwickelt.

Mit Österreich kann man Pakte schließen. Wenn es uns gut geht, sind wir gerne dabei. Wehe aber, es gibt Probleme. Hier kommen die Rechtspopulisten ins Spiel. Sie brauchen für ihre Propaganda zwei Dinge: Krisen und Feindbilder. Menschen mit europafeindlichen Parolen zu belustigen, geht immer gut. Bei den Rechtspopulisten ist täglich Fasching und Aschermittwoch gleichzeitig. Herbert Krejci hat den EU-Skeptizismus in einer Studie von 2004 analysiert und die Häufigkeit von Schlagwörtern wie Schildlaus, Blutschokolade, Gurkenkrümmung, Teuro und vielen anderen zusammengefasst. Besonders schlimm ist, woran sich die Skeptiker medial orientieren. In seiner Studie steht: „52% der EU-Skeptiker geben die “Kronen Zeitung” als Informationsquelle für EU-relevante Themen an.“

Die anderen sind schuld!

Als Teil einer Gemeinschaft so zu tun, als gehöre man nicht dazu, ist einfach. Immer sind die anderen schuld. Die ÖVP-FPÖ-Regierung unter Kurz betonte immer wieder Nationalstaatlichkeit. Allerdings gab es diese nur in Ankündigungen. Die EU-Feindlichkeit von ÖVP und FPÖ ist eine Show ohne Substanz. Eine österreichische Show, die mit Europa nichts zu tun hat.

Bis heute gab es keine einzige nationalstaatliche Entscheidung Österreichs, die wegweisend oder vorbildhaft gewesen oder von Österreich konsequent durchgezogen worden wäre. Zum Beispiel ein atomfreies Österreich ohne Stromimporte aus Ländern mit Atomenergie. Das wäre ein Zeichen!

Atomfreies Österreich – eine Bigotterie

Österreich, das Land, das so stolz darauf ist, kein Atomkraftwerk zu betrieben, ist auf Stromimporte angewiesen. Von 2020 auf 2021 sind die Importe um 36 Prozent gestiegen. Die Importländer sind Länder mit Atomkraftwerken: Deutschland, Tschechien, Frankreich und andere. Die EU hat Atomstrom für nachhaltig erklärt. Ein krasse Fehlentscheidung, die es Ländern wie Frankreich leicht macht, ihre Atomkraftwerke, die zur Hälfte in den Achtzigerjahren gebaut wurden und schon seit zehn Jahren stillgelegt sein sollten, weiterlaufen zu lassen. Dabei hat Frankreich zu wenig Endlagerplätze für den Atommüll der nächsten Jahre. Und aus der Abhängigkeit von Russland helfen die Atomkraftwerke auch nicht: Der Großteil des angereicherten Urans wird aus Russland importiert. Fazit: Ein atomfreies Österreich ist reine Bigotterie.

Daher bin ich dagegen, Kritik an der EU als rechts zu brandmarken. Das ist Unsinn. Es muss linke und auch ökologische Kritik an der EU geben. Ich bin auch dagegen, nicht mit Bewegungen zu reden, die für den EU-Austritt sind. Aber eines muss klar sein:  Wenn man wirklich für Nationalstaatlichkeit ist, braucht man einen Plan. Und ein solcher Plan muss – wie im Fall einer Unabhängigkeit von Stromimporten – langfristig sein und über mehrere Legislaturperioden halten, also auch Regierungswechsel überleben.

Bemerkenswerte Heuchelei

Als Mitglied der EU müssen wir versuchen, die EU zu verändern. Denn selbstverständlich gibt es in der EU (wie in unserem Land) Korruption, strukturelle Probleme und Misswirtschaft. Populismus und Schwarz-Weiß-Logik sind zu wenig. Man muss der Bevölkerung gegenüber ehrlich sein und EU-Politik ernst nehmen und nicht einfach Gegner in der eigenen Partei, die man los werden will, zu Europapolitikern machen.

All das liegt der Regierung leider fern. Bundeskanzler Karl Nehammer, ein Schildlausbürger dritter Generation, der in der vergangenen Pressestunde wieder einmal das Wort Nationalstaatlichkeit in den Mund genommen hat, ist der letzte, der den Mut dazu hat, eigenständig zu handeln. Geht es um Asyl, treibt es das Kurz-Generikum Nehammer sofort in die Arme von Diktatoren und Populisten. Vor etwa zwei Wochen traf er Aleksandar Vučić und Viktor Orbán, die das Thema Migration zwar für anti-islamistische Rhetorik nutzen, aber den österreichischen Kanzler verarschen. Paul Lendvai dazu im „Standard“: „Bemerkenswert ist auch die Heuchelei: Jeder dritte Asylwerber in Österreich kam zuerst visafrei nach Serbien und wurde dann durch das Orbán-Regime nach Österreich durchgewinkt.“

ÖVP hat sich der FPÖ angeglichen

Mit der Nicht-Aufnahme von Bulgarien und Rumänien in den Schengen-Raum wird kein Grenzübertritt verhindert und kein Verbrechen verhindert. Es ist kein nationalstaatlicher Schritt, sondern eine nationale Botschaft der ÖVP an die österreichischen Wähler*innen und sie lautet: Wir haben uns in der Europapolitik der FPÖ angeglichen.

Was in die Bundes-SPÖ gefahren ist, das Nein der Rechtspopulisten zur Erweiterung des Schengen-Raums auf Bulgarien und Rumänien zu teilen, ist mir ein Rätsel. Angesichts dieser Misere muss man über Wiens Bürgermeister Michael Ludwig froh sein, der sich ein weiteres Mal als umsichtiger Politiker zeigt und den Mut hat, nicht nur der Regierung, sondern auch der Bundeszentrale seiner Partei zu widersprechen. Es ist notwendig.

Titelbild: ZackZack/Miriam Mone

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