Samstag, Juli 27, 2024

Wissenschaftler solidarisieren sich mit Klebe-Aktivisten

Dienstagfrüh lud eine Gruppe von Wissenschaftlern zu einer Pressekonferenz mitten am Wiener Praterstern, um sich mit der “Letzten Generation” zu solidarisieren. Die Redebeiträge wurden plötzlich von wildem Hupen unterbrochen.

Wien, 10. Jänner 2023 | Scientists for Future hatten für Montag, acht Uhr zu einer ungewöhnlichen Pressekonferenz am Wiener Praterstern eingeladen. In der Einladung hatte man gebeten, pünktlich zu sein. Dann wurde der Start der Pressekonferenz um zehn Minuten verschoben, weil Initiator Reinhard Steurer, Professor für Klimapolitik an der Universität für Bodenkultur (BOKU) in Wien, aufgrund einer Betriebsstörung in den öffentlichen Verkehrsmitteln feststeckte.

Als Steurer schließlich mithilfe eines Mikrofons das Wort ergriff, machte er sich die Umstände gleich als „Eröffnungsgag“ zunutze: Der Beginn der Veranstaltung sei ebenso verspätet wie die österreichische Klimapolitik. Bald war auch klar, wieso die Wissenschaftler Zeit und Ort gewählt hatten.

Solidarität mit „Letzter Generation“

„Wir sind hier weit außerhalb unserer örtlichen und zeitlichen Komfortzone“, nahm Steurer Bezug auf die frühmorgendliche Pressekonferenz mitten im Wiener Frühverkehr an einem der größten Verkehrsknotenpunkte der Stadt. Man sei da, um sich mit den Klima-Aktivisten zu solidarisieren, „die lästig sind mit ihren Aktionen und eine Bereicherung für die Demokratie“.

Er wolle seinen Kindern in zehn Jahren sagen können, er habe etwas getan, außer Papers zu schreiben, so Steurer: „Wir als Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen haben wiederholt gewarnt, aber das reicht offenbar nicht.“ Nachdem die Massenbewegung um Fridays for Future durch die Pandemie zum Stillstand gekommen sei, wäre die Alternative eben, dass kleine Gruppen beginnen „zu stören“.

Passenderweise wurden die letzten Minuten der Veranstaltung ebenfalls gestört, als plötzlich wildes Hupen von der Praterstraße zu hören war. Aktivisten hatten sich auf allen Zufahrtsstraßen zu Wiens größtem Kreisverkehr auf den Boden geklebt.

“Kein Fehlalarm”

Festkleben, Suppenwerfen und andere Aktionen hätten besser funktioniert, als er erwartet habe, so Steurer. „Zuerst habe ich das als TikTok-isierung gesehen“, sagte Steurer. Dann habe er festgestellt, dass die Aktivisten den Diskurs mit einfachen Mitteln in die Mitte der Gesellschaft tragen.

Dieser zivile Widerstand sei der Feueralarm für eine schlafende, verdrängende Gesellschaft, sagte Steurer: „Als Wissenschaft sind wir da, um zu sagen: Das ist kein Fehlalarm, das ist kein Probealarm, das ist ernst.“ Unverantwortlich sei nicht, Straßen zu blockieren, unverantwortlich sei, das neue Klimaschutzgesetz zu blockieren.

Steurer: „Wir sind alle die letzte Generation“

Die österreichische Klimapolitik drehe sich im Kreis, das Klimaschutzgesetz sei seit zwei Jahren in Verhandlung, kritisierte Steurer die Regierung. Bei den Klimazielen sei bereits jetzt absehbar, dass diese bis 2030 nicht erreicht werden könnten. „Die Lücke zwischen dem, was sein soll, und dem, was ist, wird zu groß“, so Steurer.

Angelehnt an ein Zitat von Ex-US-Präsident Barack Obama sagte der Wissenschaftler: „Wir sind die letzte Generation, die etwas dagegen tun kann. Wir sind in diesem Sinne tatsächlich alle die letzte Generation.“

Wissenschaftler: 30 km/h in der Stadt

Der Verkehrsplaner und -techniker Günter Emberger von der TU Wien forderte, ein Tempolimit von 80 km/h auf Freilandstraßen und 30 km/h in der Stadt einzuführen. Diese Maßnahmen seien einfach umzusetzen und zu kontrollieren, würden Menschenleben und Verletzte einsparen, Treibhausgase, Reifenabrieb sowie Lärm reduzieren. Der Verkehrsclub Österreich (VCÖ) fordert ebenfalls immer wieder Maximalgeschwindigkeiten zu senken, etwa in der Stadt Tempo 30 zur Regel und Tempo 50 zur zu begründenden Ausnahme zu machen.

Mit Verboten solle die Politik es der Wirtschaft leichter machen, kleinere Autos zu bauen, forderte Emberger. „Ich finde kein Argument dafür, die Tempolimits nicht einzuführen“, so der Experte.

Jänner zu warm

Biodiversitätsforscher Franz Essl, gerade frisch zum Wissenschaftler des Jahres 2022 gekürt worden, merkte an, dass der aktuelle Jänner bisher acht Grad zu warm sei. Man müsse angesichts der bereits spürbaren Auswirkungen darüber nachdenken, was wirklich radikal sei. Österreich blicke wegen fehlender Klimapolitik und verfehlter Klimaziele Milliarden an Strafzahlungen entgegen. „Ist das verantwortungsvolle Politik?“, fragte Essl. Die Frage stellten sich Aktivisten der Letzten Generation, die sich in dem Moment auf die Straße klebten.

(pma)

Titelbild: GEORG HOCHMUTH / APA / picturedesk.com

Autor

  • Pia Miller-Aichholz

    Hat sich daran gewöhnt, unangenehme Fragen zu stellen, und bemüht sich, es zumindest höflich zu tun. Diskutiert gerne – off- und online. Optimistische Realistin, Feministin und Fan der Redaktions-Naschlade. @PiaMillerAich

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