Samstag, April 20, 2024

Türkisches Regierungsversagen sorgt für Wut nach Katastrophe

Nach der Erbebenkatastrophe im türkisch-syrischen Grenzgebiet schwindet die Hoffnung. Nun kippt die Stimmung in Wut um. Denn der türkische Bausektor war in der Vergangenheit ein Herd für Korruption.

Wien/ Maraş | Eine Woche nach den Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet am 06. Februar gehen die Rettungsarbeiten langsam zu Ende. Die Hoffnung noch Überlebende unter den Trümmern zu finden schlägt Berichten nach vielerorts in blanke Wut um. Die Sicherheitslage war zeitweise so unübersichtlich, dass Rettungsarbeiten pausiert werden mussten, da Menschen wegen Nahrungsmittel- und Wassermangel teilweise begannen zu plündern.

Mangelnde Rettungsarbeiten

In Städten wie Maraş, Pazarcık oder Adıyaman, die im Epizentrum liegen und mit am meisten von der Zerstörung betroffen sind, kamen anfangs kaum Rettungskräfte an, sodass die Menschen vor Ort gezwungen waren selbst nach Überlebenden zu suchen, oft mit bloßen Händen oder, wie in Adıyaman, mit eigens organisierten Baggern. Die Angst dabei für die Verschütteten potentiell tödliche Laienfehler zu begehen war groß, aber die Sorge um die Liebsten überwiegte dennoch.

In Maraş sicherten Mitarbeiter der Katastrophenschutzbehörde AFAD unter Polizeischutz Tresore von Bankfilialen der Halkbank, sowie von İş Bankası, anstatt weiter nach Überlebenden zu suchen. Anwohner konnten diese Form der Priorisierung von Wertgegenständen vor Menschenleben nicht fassen und äußerten lautstark ihre Verzweiflung:

Erschüttertes Vertrauen in den Staat

Der türkische Staat sei nicht dagewesen, als man ihn am meisten gebraucht habe, so lautet vielerorts der Vorwurf. AFAD sei unzureichend vorbereitet und nicht imstande gewesen effektiv und schnell Hilfe zu leisten. So spenden viele Menschen lieber Hilfsorganisationen, wie AHBAP („Anadolu Halk ve Barış Platformu“, das Akronym heißt etwa „Kumpel“) die vom Musiker Haluk Levent gegründet wurde, weil man der staatlichen Hilfe misstraut.

Nach dem Erbeben von İzmit/Gölcük 1999 wurde eine sogenannte Erdbebensteuer eingeführt, die private Transportsteuer (Özel İletişim Vergisi). Mit dem Erlös sollten eigentlich Gebäude gegen Erdbeben gesichert werden, das Geld wurde aber laut dem ehemaligen Finanzminister Mehmet Şimşek unter anderem für Infrastruktur allgemein und Schuldenbegleichung beim IWF zweckentfremdet. Insgesamt seien mit dieser Steuer über 88 Milliarden Türkische Lira eingenommen worden, nach heutigem Wechselkurs wären das etwa 4,7 Milliarden U.S. Dollar. Rechnet man aber frühere Wechselkurse mit ein kommt man auf circa 37 Milliarden Dollar.

Korruptionsvorwürfe tauchen wieder auf

Der Korruptionsskandal von 2013, bei dem über 30 AKP-nahe Geschäftsleute wegen Korruptionsvorwürfen festgenommen wurden, zeigte ein Naheverhältnis zwischen den damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan und dem Bausektor auf. Vier Minister, deren Söhne im Zuge der Ermittlungen verhaftet wurden, mussten zurücktreten.

Während der Razzien wies Erdoğan selbst seinen Sohn Bilal in einem veröffentlichten Telefonat an 30 Millionen Euro Bargeld aus ihrem Haus verschwinden zu lassen. Erdoğan bezeichnete das Telefonat später als Fälschung.

Systematische Umgehung von Bauvorschriften

Ein Video von Präsident Erdoğan ging viral, in dem er 2019 in Maraş ein Amnestiegesetz lobte. 2018, fünf Wochen vor den Präsidentschaftswahlen, wurde dieses Amnestiegesetz erlassen, durch das insgesamt bis zu sieben Millionen illegal oder nicht vorschriftsgemäß gebauter Häuser rückwirkend Lizenzen erhielten. Kritikerinnen werfen auch deshalb der AKP Korruption mit Bauunternehmern vor, die zu einer systematischen Missachtung von Bauvorschriften geführt und den Tod von Zehntausenden durch die Beben mitverursacht habe.

Erdoğan wurde 1994 überraschend zum Bürgermeister von İstanbul gewählt. Im Wahlkampf wurde ihm vorgeworfen, er lebe in einem illegal gebauten Haus. Erdoğan nahm den Vorwurf dankend auf und erklärte, er, wie Millionen anderer in İstanbul auch, lebe in einem illegalen Haus, weil sich die Regierenden nicht genug um das Problem gekümmert hätten. Die Wählerschaft dankte ihm damals diese als Anti-Establishment wahrgenommene Haltung.

Nach der Erdbebenkatastrophe 2023 und den offensichtlichen grassierenden Baumängeln versucht die AKP nun tunlichst ihrem Image der Freunderlwirtschaft rund um die „Gang of Five“ etwas entgegenzusetzen. Mehrere Bauunternehmer wurden verhaftet, unter anderem medienwirksam vor Kameras bei dem Versuch das Land zu verlassen. Ob die AKP es schaffen wird das Narrativ zu kontrollieren, bleibt angesichts des Volkszorns aber fraglich.

Titelbild: OZAN KOSE / AFP / picturedesk.com

Gabriel Hartmann
Gabriel Hartmann
Reporter für türkisch-österreichische Gschichten. Beobachtet die Entwicklungen und den Wahlkampf in der Türkei. Dil kılıçtan keskindir.
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20 Kommentare

  1. Ernüchternd: Egal wohin man in diese Welt blickt, der Humanismus (Achtung der Menschenwürde) scheint reinste Schimäre (Hirngespinnst). Ist offenbar nur ein schöngeistiges Theoretikum, jeglicher Alltagsrealität entkoppelt, im jeweils kulturell gewachsenen Fundament regionaler Ethik, mit dem Überbau einer gängelnden Religion als Vehikel, um interne systemische Ungerechtigkeiten in externen Gefahrenlagen erklärt wenigstens temporär erträglicher scheinen zu lassen. Erst recht in global Resourcen verknappenden Krisenzeiten. Das unnatürlichst / künstlichst möglich Erdachte auf dieser Welt, Geld als Wert transformierendes / erhaltendes Tauschmittel – welches zwingend einen bedingungslosen Glauben daran voraussetzt – enthemmt offenbar instantan die “menschliche” Grundanlage, den Anderen zum eigenen Vorteil(?) zu übervorteilen. So werden angeborene menschliche Sozialisation und kooperative Arbeitsteilung systematisch in gesellschaftliche Verwerfungen geführt, einem blinden Glauben geopfert…

    • Funfacts am Rande: In der Etymologie stammt das Wort “Geld” vom althochdeutschen “gelt”, das soviel bedeutete wie „Entgelt, Zins, Lohn, Opfer, Einkommen, Wert, gelten“ und erstmals im Jahre 790 n. Chr. auftauchte. Um 650 v. Chr. erfand der lydische König Krösus das erste Münzsystem. Er garantierte für das Gewicht und den festgelegten Wert(!) und ließ neben seinem Wappen auch den Wert auf die Münze prägen. (U.a. auch im territorialen Herrschaftsanspruch manifestiert als eingehobene “Maut” auf den Handelswegen zw. den Kontinenten Asien u. Europa) Lydien ist der Name einer Landschaft im Altertum. Sie befand sich an der Mittelmeerküste Kleinasiens in der heutigen Türkei gegenüber den der Küste vorgelagerten Inseln Lesbos, Chios und Samos. Das Gebiet erstreckte sich um das heutige Izmir bis etwa Alaşehir ins Landesinnere…

  2. Die Türkei hält sich selbst wenn sie gar nichts macht, noch immer besser als Deutschland bei der Katastrophe im Ahrtal. Da wurden Helfer verjagt, bestraft und von der Politik kam Hohn für die Opfer.

  3. Leider ist es so, dass das Heilsversprechen (in diesem Fall: Ihr kriegt eure Häuser legalisiert) und die staatliche Fürsorge auseinanderklaffen: inhaltlich wie zeitlich. Die Legalisierung der Häuser (wegen der vorangegangenen Korrption wurden viele Häuser ohne Genehmigung, weil ohne Bakshish, dennoch gebaut) beendete nicht die Korruption, was eigentlich das Versprechen war. Die nachfolgenden Bauten waren immer noch korruptiv, aber in einem größeren, mafiösen Ausmaß. Das Ergebnis ist in beiden Fällen das selbe: Keine erdbebensicheren Häuser.

    Da der Zeitraum ein langer ist, kann man sich für falsche Versprechen lange wählen lassen. Formal wurde ja umgesetzt: Legalisierung. Aber die staatliche Fürsorge, um die es ging, wurde nicht eingelöst. Auch Erdogan hat darauf gewettet, dass bs zu seinem Tod so etwas nicht eintritt.

  4. Anfang 2023 leben in der Türkei fast 4 Mio. Flüchtlinge, die meisten aus Syrien. Dazu kommen jetzt noch geschätzte 5 Mio. obdachlose Erdbebenopfer und im benachbarten Syrien ebenfalls noch mal 5 Mio. die ihr Zuhause durch das Erdbeben verloren haben. Das wären dann 15 Mio. Kriegsflüchtlinge/Erdbebenopfer alleine in der Türkei und der betroffenen Region Syriens…..mag sich irgendjemand vorstellen was das bedeutet?

  5. Hauptsache sein, mit von der Bevölkerung gestohlenem Geld, gebauter Palast ist erdbebensicher. 😤
    Erdogan gehört verjagt!

  6. Wo Herrscher die Gesetze manipulieren, um an der Macht zu bleiben, läuft etwas schief. Von der Trunkenheit der Macht verzehrt, beginnen diese Autokraten zu glauben, dass sie Halbgötter sind. So auch bei diesem Sultan. 1001 Nacht kommen für die Türkei.

    • “Wo Herrscher die Gesetze manipulieren”, wieso fällt einem da unser baldiges “Krisensicherheitsgesetz” ein? Ermächtigungsgesetze haben im deutschsprachigen Raum bekanntlich Tradition. Balken und Splitter kann man nur sagen.

  7. Er wird wieder mit allen Tricks arbeiten um an der Regierung zu bleiben. Er ist Diktator und Faschist. 🤮

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