Mittwoch, Oktober 9, 2024

Über Mut und Armut – Skylla & Charybdis

Julya Rabinowich über ein Thema, das nicht unbedingt sexy ist: Armut. Und über Menschen, die keine Lobby haben.

Wien | Der Einstieg: ein Hobby, eine kleine Freude der Betroffenen, die ihr über den an sich schon schwierigen Alltag hilft, ihr ein Gefühl gewisser Normalität vermittelt. Noch in der Einleitung wird die Autorin, Daniela Brodesser, vormals armutsbetroffen, nun Aktivistin, diese trügerische Normalität verlieren: die Kamera, mit der sie so gerne Sonnenuntergänge festhält, muss verkauft werden. Stromversorgung oder Kamera. Die mehrfache Mutter entscheidet sich natürlich für ersteres. 

Schweigen

Der Einstieg öffnet eine gern verschlossen gehaltene Tür und wirft einen Strahl in das Dunkle, das Armut bedeutet. Da will man nicht so gerne hinsehen. Nachempfinden schon gar nicht. Und doch ist dieses Nachempfinden unglaublich wichtig, um die Gesellschaft nicht noch weiter auseinanderzutreiben. Armut ist nicht gerade ein sexy Thema. Wer es erleidet, der schweigt zu oft lieber, als sich öffentlich zu entblößen. Vorurteile halten sich hartnäckig. Armutsbetroffene haben vielleicht Hilfestellung: eine Lobby haben sie nicht.

Mit Menschen, die so ausgeliefert sind, kann man Machtspielchen spielen. Umso wichtiger ist Brodessers Buch. Hier schreibt eine, die Armut nicht nur als abstraktes politisches Thema kennt. Hier schreibt eine, die selbst in den dunklen Wassern trieb und es ans Ufer schaffte: eine unglaubliche Kraftanstrengung. Und diese Ufersuche trifft viele, die oft die Kraft nicht mehr finden oder aufgrund gesundheitlichen Zustandes gar nicht in der Lage dazu sind.

“Besonders von Armut gefährdet sind Kinder, Frauen im Alter, Alleinerzieherinnen, Langzeitarbeitslose und Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft. Mit großen Problemen sind Menschen mit chronischer Erkrankung konfrontiert. Fast ein Viertel aller Armuts- und Ausgrenzungsgefährdeten sind Kinder. Von in Ein-Eltern-Haushalten lebenden Kindern ist sogar fast die Hälfte armuts- oder ausgrenzungsgefährdet.”

Unsichtbar

Obwohl ein so hoher Prozentsatz der Bevölkerung von Armut betroffen ist, bekommen die meisten Menschen in ihrem Alltag davon kaum etwas mit. “Denn dass jemand unterhalb der Armutsgrenze lebt, ist nicht unbedingt sichtbar,“ schreibt die Autorin, die zu gut weiß, wie man unter dem Radar fliegt. Die Beschämung ist schwer zu ertragen.

Ich habe ein kleines, überhaupt  nicht vergleichbares Beispiel, wie schnell das geht. Als Siebzehnjährige riss ich mit meinem ersten Freund von zu Hause aus und schlief alle paar Tage woanders. Das dauerte nicht lange, aber lange genug, um zu spüren, dass wir verdammt wenig Ressourcen hatten. Geld hatte ich natürlich keines. In der Schule aber verlangte man von mir, dass ich das Schulspargeld abgeben müsse. Egal, wie meine Lebensumstände waren. Ich erinnere mich an meine Fassungslosigkeit: Ich hatte doch nichts! Und jetzt lege man diese kleine, durch den Zeitrahmen eng gezurrte Situation ( denn natürlich trennten wir uns und ich kehrte reuig zurück) nochmals her unter dem Aspekt derer, die solchen Momenten nie entkommen.

Der Staat sollte sich schämen

Ein Kind, das in Armut aufwächst , ist von klein auf  beschämt. Dabei sollte es der Staat sein, der in einem Land wie Österreich Armut zulässt. 

Daniela Brodesser legt den Fokus auf dieses Verschwiegene, Verborgene, Erduldete und bricht damit das Tabu: Armut wird plötzlich laut und bemerkbar. Es ist eine Selbstermächtigung, deren Bedeutung nicht unterschätzt werden darf, denn sie ermutigt andere. Es ist ihre eigene Familiengeschichte, anhand derer Brodesser skizziert, wie eine ganz normale Mittelklassefamilie durch ein unvorhergesehenes Ereignis – eine chronische, schwere Erkrankung eines der Kinder – den Halt verliert und nach und nach abrutscht. Den verzweifelten Kampf dagegen. Und immer, immer wieder die Scham.

Der Text holt ins Bewusstsein, dass es nicht allzu viel braucht, um sich auf der anderen Seite jenseits des Wohlstandes wiederzufinden. Diese Botschaft ist von größter Wichtigkeit. Wenn schon nicht wegen dem Unglück anderer, so wegen eigener möglichen Gefährdung sollte die Gesellschaft dort hinsehen, wo das Tabu so vorzüglich verschleiert, um hinter der Mauer des Schweigens auf viele, diverse Geschichten zu stoßen. Armut ist kein Schicksal. Wenn die Gesellschaft das will.

Titelbild: ZackZack/Miriam Mone

Autor

  • Julya Rabinowich

    Julya Rabinowich ist eine der bedeutendsten österreichischen Autorinnen. Bei uns blickt sie in die Abgründe der Republik.

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