Donnerstag, April 25, 2024

Über Mut und Armut – Skylla & Charybdis

Julya Rabinowich über ein Thema, das nicht unbedingt sexy ist: Armut. Und über Menschen, die keine Lobby haben.

Wien | Der Einstieg: ein Hobby, eine kleine Freude der Betroffenen, die ihr über den an sich schon schwierigen Alltag hilft, ihr ein Gefühl gewisser Normalität vermittelt. Noch in der Einleitung wird die Autorin, Daniela Brodesser, vormals armutsbetroffen, nun Aktivistin, diese trügerische Normalität verlieren: die Kamera, mit der sie so gerne Sonnenuntergänge festhält, muss verkauft werden. Stromversorgung oder Kamera. Die mehrfache Mutter entscheidet sich natürlich für ersteres. 

Schweigen

Der Einstieg öffnet eine gern verschlossen gehaltene Tür und wirft einen Strahl in das Dunkle, das Armut bedeutet. Da will man nicht so gerne hinsehen. Nachempfinden schon gar nicht. Und doch ist dieses Nachempfinden unglaublich wichtig, um die Gesellschaft nicht noch weiter auseinanderzutreiben. Armut ist nicht gerade ein sexy Thema. Wer es erleidet, der schweigt zu oft lieber, als sich öffentlich zu entblößen. Vorurteile halten sich hartnäckig. Armutsbetroffene haben vielleicht Hilfestellung: eine Lobby haben sie nicht.

Mit Menschen, die so ausgeliefert sind, kann man Machtspielchen spielen. Umso wichtiger ist Brodessers Buch. Hier schreibt eine, die Armut nicht nur als abstraktes politisches Thema kennt. Hier schreibt eine, die selbst in den dunklen Wassern trieb und es ans Ufer schaffte: eine unglaubliche Kraftanstrengung. Und diese Ufersuche trifft viele, die oft die Kraft nicht mehr finden oder aufgrund gesundheitlichen Zustandes gar nicht in der Lage dazu sind.

“Besonders von Armut gefährdet sind Kinder, Frauen im Alter, Alleinerzieherinnen, Langzeitarbeitslose und Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft. Mit großen Problemen sind Menschen mit chronischer Erkrankung konfrontiert. Fast ein Viertel aller Armuts- und Ausgrenzungsgefährdeten sind Kinder. Von in Ein-Eltern-Haushalten lebenden Kindern ist sogar fast die Hälfte armuts- oder ausgrenzungsgefährdet.”

Unsichtbar

Obwohl ein so hoher Prozentsatz der Bevölkerung von Armut betroffen ist, bekommen die meisten Menschen in ihrem Alltag davon kaum etwas mit. “Denn dass jemand unterhalb der Armutsgrenze lebt, ist nicht unbedingt sichtbar,“ schreibt die Autorin, die zu gut weiß, wie man unter dem Radar fliegt. Die Beschämung ist schwer zu ertragen.

Ich habe ein kleines, überhaupt  nicht vergleichbares Beispiel, wie schnell das geht. Als Siebzehnjährige riss ich mit meinem ersten Freund von zu Hause aus und schlief alle paar Tage woanders. Das dauerte nicht lange, aber lange genug, um zu spüren, dass wir verdammt wenig Ressourcen hatten. Geld hatte ich natürlich keines. In der Schule aber verlangte man von mir, dass ich das Schulspargeld abgeben müsse. Egal, wie meine Lebensumstände waren. Ich erinnere mich an meine Fassungslosigkeit: Ich hatte doch nichts! Und jetzt lege man diese kleine, durch den Zeitrahmen eng gezurrte Situation ( denn natürlich trennten wir uns und ich kehrte reuig zurück) nochmals her unter dem Aspekt derer, die solchen Momenten nie entkommen.

Der Staat sollte sich schämen

Ein Kind, das in Armut aufwächst , ist von klein auf  beschämt. Dabei sollte es der Staat sein, der in einem Land wie Österreich Armut zulässt. 

Daniela Brodesser legt den Fokus auf dieses Verschwiegene, Verborgene, Erduldete und bricht damit das Tabu: Armut wird plötzlich laut und bemerkbar. Es ist eine Selbstermächtigung, deren Bedeutung nicht unterschätzt werden darf, denn sie ermutigt andere. Es ist ihre eigene Familiengeschichte, anhand derer Brodesser skizziert, wie eine ganz normale Mittelklassefamilie durch ein unvorhergesehenes Ereignis – eine chronische, schwere Erkrankung eines der Kinder – den Halt verliert und nach und nach abrutscht. Den verzweifelten Kampf dagegen. Und immer, immer wieder die Scham.

Der Text holt ins Bewusstsein, dass es nicht allzu viel braucht, um sich auf der anderen Seite jenseits des Wohlstandes wiederzufinden. Diese Botschaft ist von größter Wichtigkeit. Wenn schon nicht wegen dem Unglück anderer, so wegen eigener möglichen Gefährdung sollte die Gesellschaft dort hinsehen, wo das Tabu so vorzüglich verschleiert, um hinter der Mauer des Schweigens auf viele, diverse Geschichten zu stoßen. Armut ist kein Schicksal. Wenn die Gesellschaft das will.

Titelbild: ZackZack/Miriam Mone

Julya Rabinowich
Julya Rabinowich
Julya Rabinowich ist eine der bedeutendsten österreichischen Autorinnen. Bei uns blickt sie in die Abgründe der Republik.
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21 Kommentare

  1. Bei einer Diskussion mit einem (gutsituirten) Bekannten meinte er Reichtum ist keine Schande und ich sagte Arm sein ist aber auch keine Auszeichnung.

  2. Sonne wie Tod kann man nicht anstarren. (Le soleil ni la mort ne peuvent se regarder fixement) heißt es bei La Rochefoucault.
    Mit der Armut verhält es sich ähnlich. Wir schauen an ihr vorbei, wenn wir ihr begegnen, denn wir wollen mit ihr nichts zu tun haben. Im besten Fall werfen wir ihren Opfern einige Almosen hin und wenden uns eilig ab.
    Die Bettler vor den Supermärkten bereiten uns Unbehagen und das ist ja wohl auch beabsichtigt. Unser schlechtes Gewissen macht manche von uns großzügig und warmherzig, aber nur für einen Augenblick. Die Armen um uns sehen wir aber meistens gar nicht, denn sie halten sich verborgen.
    Weniger aus Scham, finde ich, denn aus Notwendigkeit. Haben sie eine andere Wahl?
    Das normale Leben ist unerschwinglich, die Besuche eines Restaurants, einer Diskothek, eines Freibades… sind ein Luxus, den sie sich nicht leisten können und sogar zuhause ist es im Winter zu kalt, denn das heizen kostet, um sich dort zu verstecken…

    • für mich stimmt das überhaupt nicht, ich helfe, wo ich kann, auch mein sohn hat ein vermögen ausgegeben für tiere, umwelt, orgas, die sich für gerechtigkeit einsetzen, etc.
      und natürlich haben wir immer parteien gewählt, die sich für gerechte sozialpolitik einsetzen.

    • Ich sehe sie schon. Seit Jahren kaufe ich auf Flohmärkten günstig Kleidung, Taschen, Schuhe ein, repariere es in meiner Freizeit, bis es wieder tadellos aussieht und verschenke es dann an Bedürftige. Ansonsten unterstütze ich ein Nachbarschaftszentrum, wenn etwas gerade dringend benötigt wird. Bei den Bettlern vor den Supermärkten ist Obacht geboten, handelt es sich ja meist um die Bettlermafia. 2 Beispiele: 1) Vorige Woche ging vor mir ein ca. 30-Jähriger mit einer Sporttasche, aus der eine Decke herausragte. Er war normal gekleidet, Rucksack usw., ansonsten unauffällig. Bei einem Geschäft quartierte er sich dann plötzlich häuslich ein, breitete die Decke auf dem Boden aus, machte auf Bettler und fing – und da setzte mein Lachkrampf ein – plötzlich aus heiterem Himmel an, vor und zurück zu wackeln. Wer ihn vorher nicht gesehen hatte, bekam sicher Mitleid. 2) Ein anderer stand “verzweifelt” auf seine Krücke gestützt und sichtlich mit Schmerzen vor dem Supermarkt. 2 Wochen später erkannte ich ihn am Praterstern, die Krücke in der Hand, wie er frisch fröhlich einem Kollegen nachlief und sich dann lachend unterhielt.

  3. “Der Staat sollte sich schämen…”Richtig! Neoliberale Politik wird zunehmend sichtbar nach dem Motto “Euer Sozialstaat ist unser Geschäftsmodell”. Aber bloß nicht dagegen aufstehen. Es besteht sonst massive Verwechslungsgefahr. Also begnügt man sich mit moralischer Verdammung. Auf diese Art ist die Armut gekommen um zu bleiben…

    • Sie wissen schon, daß es ein wesentliches Merkmal von CETA ist, den Konzernen zu gestatten, sich in die Einrichtungen des Sozialstaats hineinzuklagen. Nach dem von Ihnen genannten Motto.
      Dagegen kann man ohnmächtig aufstehen. Besser hätte man einen solchen Vertrag nicht geschlossen.

  4. Das Problem in diesem Diskurs zur, ja, man darf es ohne Übertreibung so nennen, grassierenden Armut in den angeführt betroffenen Teilen der Gesellschaft ist mMn jenes, dass diese zynisch gelenkte Entwicklung mit dem Begriff einer eingefordert liberalen “Leistungsgesellschaft” entsolidarisierend bemäntelt, ignoriert, wenn nicht zugedeckt wird. “Erfolg” im Leben überwiegend über erbrachte, oder zu erwarteter “Leistung” bzw. deren -Bereitschaft dazu definiert und gefordert wird. Diese jedoch zivil nirgends nie nicht näher spezifiziert wird (werden kann), ausser höchstens in opportunen Ethik und Moral entbeinten politisch strategischen Machtspielchen. Während die Eliten im Lande mitunter nachfragen müssen, wo den die erbrachte Leistung zur vergoltenen ErfolgshonorarNote gewesen sei, werden im unteren Drittel Rahmenbedingungen wie Mindestlohn, flexible Arbeitszeiten, GanztagKinderbetreuung, Pflege der Angehörigen udgl. schlicht verweigert bzw. gezielt verhindert.

    • Unser “Kanzler” fabuliert von einer “Eigentumsgesellschaft”!? Angespart, ererbt, erarbeitet? Auf jeden Fall aber irgendwie erfolgsbezogen – oder letztlich doch nur entwürdigend erknechtet? Davon Ausgesparte dürfen sich derweil im gängelnden FaschoPräkariat brausen gehen, wenn’s denn der für den laufenden Monat kalkulierte / zugeteilte leistbare Strom- / Gasverbrauch überhaupt hergibt…

    • hanni: wir werden die nächsten 5 jahre politik für die leistungsträger machen.
      vorschlag: schwürkisen regierungsmitgliedern wird der gehalt auf null gestellt.

  5. Ein guter Artikel. Julya R hat mich damit überrascht. Gratuliere zu diesem so wichtigen Thema und der guten Beschreibung.

  6. Adam Smith, ja der, der den Begriff von der “Unsichtbaren Hand des Marktes” geprägt hat und damit als „Vater des Kapitalismus“ gilt hat auch folgendes – bemerkenswertes – gesagt:

    „Arm ist, wer ohne Scham nicht in der Öffentlichkeit erscheinen kann. Es geht um die Freiheit, über die eigene Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit verfügen zu können. Beschämung ist eine Frage des Blickes und des Ansehens“ (1776)

    https://www.hagerhard.at/blog/2020/05/its-a-sin-to-be-rich/

    • Wenn Kinder zB nicht in die Schiwoche können, weil sie keine Ausrüstung haben. Oder auf einen Ausflug mit dem Fahrrad, weil sie keines haben. Kinder, die nicht mitkönnen, wenn andere ins Kino gehen usw.
      Wenn man am normalen Leben nicht teilnehmen kann, ist man arm.

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