Donnerstag, April 25, 2024

„Historische Chance“: Pressestimmen zu Wahlen in der Türkei

Zum Ergebnis der ersten Runde der Präsidentenwahl in der Türkei schreiben Zeitungen am Dienstag:

Ankara | Die Wahlen in der Türkei beschäftigen auch in der Folgewoche internationale Medien. Alles blickt auf den 28. Mai.

“El País” (Madrid):

“Das seit 20 Jahren vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan betriebene autoritäre Projekt hat bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen einen herben Rückschlag erlitten. Er muss am 28. Mai in einer Stichwahl gegen den Mitte-Links-Kandidaten Kemal Kilicdaroglu antreten. Mit 49,5 Prozent der Stimmen ist Erdogan nur wenige Zehntel von den 50 Prozent entfernt geblieben, mit der er die Wahl im ersten Durchgang gewonnen hätte. Ihm stehen alle Ressourcen des Staates und ein Großteil der Medien zur Verfügung. Darüber hinaus muss jeder, der die zweite Runde gewinnen will, die Stimmen erhalten, die an den ultranationalistischen Kandidaten Sinan Ogan gingen, der an der Spitze einer fremdenfeindlichen Plattform auf fünf Prozent kam. Das Ergebnis der ersten Wahlrunde deutet auf die Mobilisierung von fast der Hälfte der Gesellschaft zugunsten eines politischen Wandels hin. Die türkische Gesellschaft steht vor einer historischen Chance, ihren derzeitigen illiberalen Kurs aufzugeben. Die Opposition hat sich um Kilicdaroglu geschart, der echte Siegeschancen hat und in der Lage ist, Erdogans Nationalpopulismus zu beenden.”

“Neue Zürcher Zeitung”:

“Sind die Zahlen korrekt, ist Kilicdaroglu deutlich unter den Erwartungen geblieben. Erdogan hat dagegen besser abgeschnitten, als von vielen Beobachtern prognostiziert wurde. Zwar verlor der Staatschef deutlich an Rückhalt gegenüber 2018, als er den Urnengang im ersten Anlauf mit 52 Prozent der Stimmen gewann. Er geht aber als klarer Favorit in die Stichwahl. Angesichts der schweren Wirtschaftskrise, welche die Türkei erlebt, ist dies erstaunlich. Schließlich ringt das Land mit der höchsten Inflation, seit Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) vor zwanzig Jahren an die Macht gekommen ist. (…)

Das Ergebnis zeigt auch, wie sehr das ganze System die Regierung bevorzugt. Fast alle großen Medien stehen heute der AKP nahe. Während Erdogans Auftritte auf allen Sendern übertragen wurden, erhielt die Opposition kaum Bildschirmzeit. Kilicdaroglu versuchte dies zwar durch die geschickte Nutzung der sozialen Netzwerke wettzumachen. Gerade auf dem Land ist aber nicht Twitter, sondern das Fernsehen weiterhin der wichtigste Informationskanal.”

“De Volkskrant” (Amsterdam):

“Die große Frage im zweiten Wahlgang wird sein, wie sich die Wähler des drittplatzierten Kandidaten, Sinan Ogan, verhalten werden. Er erhielt überraschend 5,2 Prozent der Stimmen. Viele seiner Anhänger haben nach 20 Jahren genug von Erdogan, aber das bedeutet nicht automatisch, dass sie für dessen Gegner stimmen. Beide Lager werden Ogan wahrscheinlich hinter den Kulissen hofieren. Als Rechtsnationalist ist Ogan ein Falke in der Kurdenfrage, was zweifellos auch für viele seiner Anhänger gilt. Ihnen gefällt nicht, dass Kilicdaroglu von der pro-kurdischen Partei HDP unterstützt wird. (…) Auf jeden Fall wird Erdogan die nächsten zwei Wochen damit verbringen, rhetorisch auf Kilicdaroglus Schwachstelle einzuhämmern: die Tolerierung durch die HDP, die von der Regierung als Ableger der terroristischen PKK dargestellt wird. Jede Stimme für Kilicdaroglu sei eine Stimme für Terroristen, behaupten Erdogan und seine Anhänger schon seit Wochen.”

“Frankfurter Allgemeine Zeitung”:

“Dass Erdogan in die Stichwahl muss, wird er nach zwanzig Jahren an der Macht als Demütigung empfinden. Trotzdem sind die Aussichten auf einen Regierungswechsel in Ankara mit der Wahl vom Sonntag nicht gestiegen. Der amtierende Präsident ließ seinen wichtigsten Herausforderer Kemal Kilicdaroglu deutlich hinter sich. Die Wähler des weit rechts stehenden drittplatzierten Kandidaten dürften im nächsten Wahlgang leichter zu Erdogan finden. Auch das Ergebnis der Parlamentswahl, in der sich das Wahlbündnis um die AKP eine Mehrheit sichern konnte, verschafft Erdogan einen Vorteil bei Wählern, die keinen Machtkampf zwischen den Institutionen wollen.”

“Die Welt” (Berlin):

“Die Wahl ist die knappste für Erdogan während seiner 20 Jahre andauernden Regierungszeit, nie musste er so um seine Macht ringen wie dieser Tage. Eine andauernd hohe Inflation und stark gestiegene Lebenshaltungskosten hatten seine Zustimmungsrate sinken lassen. Als Anfang Februar mehrere starke Erdbeben den Südosten der Türkei erschütterten und Zehntausende Leben kosteten, stand die Regierung wegen ihres als unzureichend empfundenen Krisenmanagements in der Kritik; viele glaubten, dies könne Erdogan bei der Wahl schaden. Letzteres ist offenbar nicht der Fall. Erdogan schneidet besser ab, als viele Beobachter erwartet hatten. Kilicdaroglu dagegen, der in zahlreichen Umfragen vorn lag, holt zwar so viele Stimmen wie lange kein Oppositionskandidat mehr – aber doch nicht so viele, wie viele Institute vorausgesagt hatten.”

“Le Figaro” (Paris):

” (…) Dem scheidenden türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan blieb das ersehnte Wahlergebnis verwehrt, aber er bekam etwas Besseres: Eine glaubwürdige Wahl, aus der er unbestritten als Sieger hervorging. (…)

Die Botschaft der Türken zeigt zwar eine relative Präferenz für die Autorität und Stabilität, die der Amtsinhaber verspricht. (…) Aber wie lange noch? Die Wahlen zeigen auch die Schwäche des starken Mannes in der Türkei: Wenn er Angst vor seinem Volk hat und versucht, es mundtot zu machen. Würde eine dritte Amtszeit von Recep Tayyip Erdogan eine Flucht in die Autokratie bedeuten? Die Europäer und die NATO-Verbündeten müssen sich darauf einstellen.”

“Pravo” (Prag):

“Im Westen herrscht die Hoffnung, dass ein Wechsel an der Staatsspitze die Türkei näher an den Konsens innerhalb der NATO heranrücken würde, was die Haltung zu Russland und den Ukraine-Krieg angeht. Die Einstellung Ankaras zum Westen könnte allgemein positiver werden. Doch da ist der Wunsch der Vater des Gedankens. Selbst bei einem Sieg des Oppositionskandidaten Kemal Kilicdaroglu ist nicht zu erwarten, dass die türkische Außenpolitik in Übereinstimmung mit den Forderungen des Westens gebracht wird. Die Politik der ‘Türkei an erster Stelle’ würde sich nicht allzu sehr ändern. Entscheidend für die Beziehungen zu Russland sind die nationalen Interessen, wobei die Wirtschaft die treibende Kraft ist. Die Türkei nutzt billiges russisches Erdgas für ihre Industrieproduktion, um ihre Produkte zu konkurrenzfähigen Preisen auf dem europäischen Markt abzusetzen.”

“Magyar Nemzet” (Budapest):

“Die Türkei kann man keine Musterdemokratie nennen, aber man darf sie auch nicht mit europäischem Maßstab messen. Die Republikanische Volkspartei (CHP), die seit dem Erscheinen Erdogans ständig in Opposition war, starrt in Wahrheit in der Vergangenheit, beklagt das Erbe von (Republiksgründer) Kemal Atatürk, und war nie in der Lage, über ihren eigenen Schatten zu springen. (…) Parteichef Kemal Kilicdaroglu ist seit 2010 Anführer der Opposition, seitdem hat er ausschließlich verloren, seine persönliche Ausstrahlung ist bei weitem nicht so anziehend in der Türkei, wie es die westlichen Medien vereinfachend suggerieren. Er bildet zwar einen Gegenpol zu Erdogan, wie auch die CHP eine große Menge Menschen hinter sich weiß, doch ist es immer weniger wahrscheinlich, dass Kilicdaroglu, der im Zuge der Niederlagen ergraut ist, jemals zu siegen lernt. Inmitten seiner Proteste wurde die Türkei eine Präsidialrepublik, eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte, ein politischer Gigant.”

Titelbild: BULENT KILIC / AFP / picturedesk.com

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1 Kommentar

  1. Der Umfragenschmäh hat wie bei den Landtagswahlen in Österreich auch in der Türkei bestens funktioniert.
    Nur dort hat man es medial (fast wie bei uns) auch noch nicht richtig kapiert. Sogar die Weltpresse hat das angeblich nicht gesehen oder erkannt?

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