Samstag, Dezember 7, 2024

„Normal Denken“ – der Mikl-Leitner-Plan

Johanna Mikl-Leitner hat einen Plan. Statt Armut soll „Gendern“ bekämpft werden. So hofft die neue Schwesterpartei der FPÖ, ihren Klassenkampf als Kulturkampf zu gewinnen.

Wien | Alles läuft nach Plan. Am 28. Juni 2023 gibt Johanna Mikl-Leitner als Landeschefin der ÖVP die neue Linie aus. Der „Miteinander-Kurs sei beendet“, die ÖVP werde ab sofort „mehr Kante zeigen“ – und zwar „für die Normaldenkenden in der Mitte der Gesellschaft“. Den Wandel zur Sprachmutter der Menschen, die nicht gendern wollen, erklärt sie im „Standard“: „Für die normal denkende Mitte der Gesellschaft hat eine derartige Frage keine Priorität. Die Mitte sagt: Findet eine pragmatische, einheitliche Regelung und beschäftigt euch mit den wichtigen Themen.“

Die Provokation gelingt, Gendern ist plötzlich das „wichtige Thema“. Alle, die einen Schrägstrich oder einen kleinen Stern mitten im Hauptwort wollen, fühlen sich betroffen – und sind empört. Man könnte das jetzt einfach als die wöchentliche Provokation, mit der die ÖVP von ihren existenzbedrohenden Problemen ablenkt, abtun. Aber diesmal ist es mehr. Der Appell an die „normal denkende Mitte“ ist Kernstück eines durchdachten und chancenreichen Plans.

Mitte verloren

Um ihn zu verstehen, muss man sich in die ÖVP versetzen. Wie geht es einer Partei, die von der Regierungsbank immer öfter auf die ihr reservierten Plätze auf der Anklagebank blickt? Wie geht es einer Parteiführung, der immer weniger Wählerinnen und Wähler und immer mehr Staatsanwälte folgen? Und wie geht es einer Partei, die an den rechten Rand abgerutscht ist und sich dort immer verzweifelter an die FPÖ klammert?

Die ÖVP hat die politische Mitte verloren. Mit Rekordinflation, Wuchermieten und der Entschlossenheit, Millionäre auf Kosten der Mehrheit zu schützen, zerstört sie das Fundament, das einmal christlich-sozial war. Mit dem Kampf gegen Sternchen und Geschlechtervielfalt versucht sie etwas, was von den USA bis nach Ungarn funktioniert: eine neue Mitte zu erfinden – die Mitte der „Normalen“. Für rechte Parteien ist das nichts Neues. Wenn sie dabei sind, einen Klassenkampf um die Verteilung von Arbeit, Einkommen und Lebenschancen zu verlieren, sind sie bereit, an seiner Stelle einen Kulturkampf zu führen.

Sprachpolizei

Um ihren Kulturkampf gewinnen zu können, braucht die ÖVP passende „Feinde“. Die bieten sich an, in Form einer Sprachpolizei, die Wörter wie Ausweise kontrolliert und mit ständig neuen Wörter-Sanktionslisten Sprachlinien zieht.

Auch viele Frauen außerhalb der Sprachzirkel verstehen nicht, was hier passiert. Nach mehr als hundert Jahren ist der Kampf um die Gleichberechtigung der Frauen kein Minderheitsthema mehr. Aber von den Pflegerinnen in den Spitälern bis zu den Frauen an den Supermarktkassen warten Hunderttausende darauf, dass sie besser leben können. Viele alleinerziehende Frauen arbeiten schwer und wissen dabei, dass sie nicht aus eigener Kraft aus der Armutsfalle kommen.

Grünes Dilemma

Genau das ist das Dilemma der Grünen. Spitzen der Partei wie Sigi Maurer kommen genau aus den Zirkeln, in denen der Kampf gegen „weiße Männer“ mit Verve geführt wurde. Jetzt sitzen Maurer & Co. in einer Koalition mit der Partei, die jedem Versuch für mehr Geschlechtergerechtigkeit türkise Riegel vorschiebt. Das hat zu einer seltsamen Arbeitsteilung geführt: Die grünen Spitzen schwenken Regenbogenfahnen und die ÖVP sorgt dafür, dass nichts passiert.

Mikl-Leitner weiß, dass sie den Kampf um die sozialen Rechte der Frauen nicht gewinnen könnte. Wer jetzt also ihrer Einladung folgt und mit ÖVP und FPÖ nicht um Löhne und Kindergartenplätze, sondern nur um Gendern und das „normale Denken“ streitet, hat eines nicht verstanden: Emanzipation und soziale Gerechtigkeit gehören zusammen. Wer sie trennt, verliert beide.

Titelbild: ROBERT JAEGER / APA / picturedesk.com, ROLAND SCHLAGER / APA / picturedesk.com, Montage ZackZack

Autor

  • Peter Pilz

    Peter Pilz ist Herausgeber von ZackZack.

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