Samstag, Juli 27, 2024

Das Tragische in der Politik

Die Politik ist voller Dilemmata. Wie umgehen mit den Zwickmühlen, bei denen jede Entscheidung immer auch ein Übel bedeutet? Ist die ÖVP noch als demokratische Stütze zu gewinnen, oder schon an den rechten Weg verloren?

Die Welt ist voller Dilemmata, weshalb die intelligenten Leute immer ewig an Problemen herumkauen, während die Dummen schon eine einfache Lösung gefunden haben, die zwar keine ist, die Probleme letztlich sogar vergrößert, aber den Dummen bis dahin Spaß bereitet.

Ein Dilemma ist bekanntlich eine Angelegenheit, bei der die Lösung ein Problem nicht vollends aus der Welt schafft, dafür aber neue Probleme schafft. „Ein Dilemma, auch Zwickmühle, bezeichnet eine Situation, die zwei Möglichkeiten der Entscheidung bietet, die beide zu einem unerwünschten Resultat führen“, heißt es bei Wikipedia als Kurzdefinition. Nicht immer ist ein Dilemma so arg: Manchmal ist es nicht einmal ein riesengroßes Problem, sondern eine Herausforderung, bei der man eine Balance hinkriegen muss, um Zielkonflikte auszutarieren. Wir Menschen sind im Allgemeinen ganz talentiert darin, das zu schaffen: Wenn man Kinder hat, will man sie beschützen, und dennoch, dass sie flügge und selbstständig werden. Man versucht dann den goldenen Mittelweg zwischen Helikopter- und Rabenmama beziehungsweise Rabenpapa.

Sind Dilemmata furchtbar arg und existenziell unauflösbar, hat die Kulturgeschichte dafür das Wort „Tragödie“ gefunden. Im schlimmsten Fall ist es eine schicksalshafte Verstrickung, bei der man, was auch immer man tut, falsch handelt. Deshalb liegen bei den großen „Tragödien“ meist am Ende viele Tote auf der Bühne herum, etwa bei der Antigone. Folgt man dem staatlichen Gesetz, verstößt man gegen die moralischen Gebote, folgt man dem moralischen Gesetz, zerstört das die staatliche Ordnung. In sich schlüssige Logiken liegen miteinander im Streit. Das Packende der Tragödie beruhte eben nicht auf der epischen, dramatischen Spannung, „auf der anreizenden Ungewissheit, was sich jetzt und nachher ereignen werde“ (Friedrich Nietzsche), sondern auf der inneren Zerrissenheit der Figuren, gern auch „tragische Helden“ genannt, die die tragische Konstellation verkörpern.

Europas Dilemma: Wir sind so attraktiv

Timothy Garton Ash hat unlängst in der „Süddeutschen Zeitung“ die Fragen von Migration, Integration, Flucht etc. als Dilemma beschrieben, dessen eigentlicher Kern ja gerne vergessen wird. Nämlich: Dass es bei uns wunderbar ist, jedenfalls vergleichsweise. Sehr viele Menschen wollen nach Europa (und in die USA und Kanada und Australien und noch ein paar Regionen). Genau darin, sagt Ash, „liegt Europas Problem. Europa ist so attraktiv, dass Millionen Menschen gerne dorthin ziehen würden.“

Das ist natürlich blöd für Europa, aber auch nicht so sehr. Denn deutlich blöder wäre, wenn niemand hier herkommen würde wollen.

Nach Russland, auch ins zunehmend autokratische China, in den Iran usw., da will natürlich niemand hin, oder jedenfalls wollen das deutlich weniger Leute. Von Somalia oder Eritrea ganz zu schweigen.

Ökonomische Möglichkeiten, Liberalität, Modernität und Freiheit, Rechtsstaat, Menschenrechte, das sind so in etwa die Eckpunkte von Europas Attraktivität. Es ist für uns nicht nur eine schöne Sache, dass wir Gemeinwesen geschaffen haben, die attraktiv sind, es hat sogar noch ein paar zusätzliche Vorteile. Es wandern Arbeitskräfte ein, die wir in alternden Gesellschaften dringend brauchen, und die unser Sozialsystem – ein wichtiger Faktor von Freiheit und Liberalität – stabilisieren. Außerdem kommen verdammt viele nette Leute, was man nicht übersehen sollte. Aber halt nicht nur. Zugleich schafft Einwanderung aber auch Probleme, etwa die berühmten Grenzen der Integrationsfähigkeit. Auch praktische, weil Wohnraum und Plätze in Schulen knapper werden, wenn mehr Leute kommen, und weil Armutsmigration auch zu Bandenkriminalität führt. Das stärkt dann wieder die Gegner der Migration, die üblicherweise auch Gegner von Modernität, Demokratie und Liberalität sind, was daher skurrilerweise zu einem paradoxen Prozess führt: dass die Attraktivität unserer Gemeinwesen eine Art Ursache dafür ist, dass sie möglicherweise nicht mehr lange attraktiv sind.

Auch ein Dilemma: Wenn die Menschen alle gleich sind, ist es fad. Wenn zu viele Menschen sich als Unähnliche erleben, führt das zu Konflikten.

Donald Trump könnte die nächsten US-Präsidentschaftswahlen wieder gewinnen, die FPÖ mit ihrem obersten Hassprediger und Ultraradikalinski Herbert Kickl liegt in Umfragen bei uns seit einem Jahr auf Platz Eins.

Was tun, um die Gefahr abzuwenden?

Der rechte Extremismus ist eine tödliche Gefahr für Demokratie, Liberalität, Rechtsstaat. Wir sollten hier sehr klar sein. Manchmal hat man ja den Eindruck, wir schaukeln im Schlafwagen in den Untergang, weil sich viele einfach schon damit abfinden, dass das halt so ist, oder darauf hoffen, dass irgendjemand schon etwas unternehmen werde. Oder, umgekehrt, fatalistisch annehmen, dass da eh niemand etwas unternehmen werde, und einfach zuschauen wie der Kiebitz beim grausig-aufreizenden Autounfall.

Aber nein, noch einmal, langsam, zum Mitschreiben: Der rechte Extremismus ist eine tödliche Gefahr für die Demokratie, für Freiheit, für Kunstfreiheit, für freie Medien, für die Liberalität, die das Leben für alle von uns attraktiv macht. Eigentlich sollte jeder und jede sich täglich morgens beim Aufstehen fragen: Was kann ich heute dazu beitragen, diese Gefahr abzuwenden?

Wir wissen auch, dass die Gefahr umso größer ist, wenn die sogenannten moderaten, konservativen Rechten die Rhetorik des rechten Radikalismus übernehmen und bereit sind, sich mit ihm zusammen zu tun, um ihre Macht zu bewahren. Wir haben in Österreich die Erfahrung gemacht, dass die ÖVP sehr weit gegangen ist, sich sogar selbst verwandelt, und einen rhetorischen Überbietungswettbewerb mit den Rechtsextremisten gestartet hat. Um ihre Macht zu bewahren. Seit Jahren öffnet sie alle Schleusen, was erst die Normalisierung der extremistischen Diskurse eröffnet hat.

Ist die ÖVP resozialisierbar?

Es ist angesichts dessen absolut verständlich, dass viele Links der Mitte die ÖVP als zentralen Verursacher des Problems ansehen, mehr als das, vielleicht sogar als das größte Problem. Zugleich weiß man, dass sich Freiheit, Demokratie und Liberalität leichter verteidigen lassen, wenn der herkömmliche Konservatismus wieder in die demokratische Mitte zurückkehrt. Ein Dilemma: Man muss die ÖVP bekämpfen und sie zugleich umwerben, auf sie einreden wie auf eine kranke Kuh, vielleicht sogar mit einer gewissen Zärtlichkeit. Nun gut, ich will hier nicht übertreiben, aber Sie wissen, was ich meine.

Die Konservativen haben in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten so viel angerichtet. Sie haben die FPÖ in die Regierung gehievt. Wir brauchen hier auch nicht auf Rücktritte und Untersuchungsausschüsse, auf Chats und Gerichtsverfahren und Hausdurchsuchungen verweisen, das weiß heute jeder. Dass die ÖVP eine einzige Skandalorgie ist, ist keine spektakuläre investigative Aufdeckung mehr. Zugleich sollten wir die Tatsache achten, dass eine weitere Skandalisierung nur mehr zu einer weiteren Diskreditierung des demokratischen Systems führt und den Extremismus derer schürt, die versprechen, einfach alles in Trümmer zu legen.

Womit wir schon wieder bei ein, zwei Dilemmata wären. Ich habe in diesem Kontext beispielsweise Bauchweh, wenn die Sozialdemokraten gemeinsam mit der FPÖ im Wahljahr noch einen Untersuchungsausschuss gegen die ÖVP einsetzen. Man kann sich etwa ausmalen, dass das in unschönem Schlammcatchen endet, die Formulierung positiver Botschaften – einer „Politik der Hoffnung“ mit Ausblick auf eine bessere Zukunft – behindern wird, und am Ende die Extremisten als Gewinner dastehen, die „das System zerstören“ wollen.

Es gibt also gute Gründe, die ÖVP entschlossen zu bekämpfen – und es gibt gute Gründe, sie zu schonen. Man hat alle guten Gründe, ihr zu grollen, für das, was sie schon angerichtet hat, und sie zugleich daran zu erinnern, dass sie eigentlich Teil einer demokratischen Volksfront der Demokraten gegen den kommenden Faschismus sein sollte.

Schon wieder so eine tragische Konstellation.

Titelbild: Miriam Moné

Autor

  • Robert Misik

    Robert Misik ist einer der schärfsten Beobachter einer Politik, die nach links schimpft und nach rechts abrutscht.

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