Samstag, Juli 27, 2024

Desolidarisierung der Selbstgerechten

Die Zerstörung der Links-Fraktion in Deutschland ist einer Person anzulasten: Sahra Wagenknecht. Sie tut es aus Egoismus und indem sie der kapitalistischen Medienlogik und dem Rechtspopulismus folgt, die sie eigentlich kritisiert.

In Sahra Wagenknechts Buch Die Selbstgerechten lese ich auf der allerersten Seite – nämlich im Vorwort: »[…] Deutschland ist tief gespalten. Auch hier zerfällt der gesellschaftliche Zusammenhalt. Auch in unserem Land ist aus dem gesellschaftlichen Miteinander ein über weite Strecken feindseliges Gegeneinander geworden.«

Das Buch, das Sahra Wagenknecht vor zwei Jahren vorgelegt hat, enthüllt schon ihr weiteres Schicksal. Wagenknecht benutzt just die Rhetorik der Rechtspopulisten und derer, die sie als Selbstgerechte bezeichnet. Sie affirmiert damit die kapitalistische Medienlogik: Personalisierung statt Versachlichung, Desolidarisierung statt Solidarisierung, negative Botschaften statt positiver Botschaften. Das beginnt schon beim Titel: Die Selbstgerechten. Das Feindbild und seine Entlarvung machen gut 95 Prozent des über 300-Seiten-starken Buches aus. Eine weitere Befundung, die keine neuen Erkenntnisse bringt.

Negieren des Sozialismus

Nun ist Wagenknecht aber zur Tat übergegangen. Und prompt trägt sie die Spaltung, die sie anklagt, mitten in die eigene Partei. Prompt lebt sie das Gegeneinander statt dem Miteinander in der eigenen Partei und zerstört ihre Fraktion. Die Selbstgerechte – das ist Sahra Wagenknecht selber. Es geht ihr um sich selbst. BSW (Bündnis Sahra Wagenknecht) heißt der Verein, den sie gegründet hat. Ein Bündnis, das den Namen einer Person trägt, ist wohl ein Oxymoron. Und auch das Attribut linkskonservativ, mit dem sie sich selbst beschreibt, ist ein Oxymoron, das heißt ein Ausdruck, der in sich selbst widersprüchlich ist.

Auf welches Wählersegment da geschielt wird, verheimlicht sie nicht. Der ARD sagt Wagenknecht, »Menschen, die jetzt AfD wählen« sollten durch ihr Bündnis »ein seriöses Angebot bekommen«. Ein solche Aussage könnte auch von der CDU stammen. Gemeint ist statt BSW also eine AfAfD (Alternative für die Alternative für Deutschland). Konkret bedeutet das, Wagenknecht will »Flüchtlingspolitik wie die AfD« machen, wie Gregor Gysi es auf den Punkt gebracht hat. Dass eine solche niemals links sein kann, versteht sich von selbst, denn in der Sichtweise der Rechtspopulisten spielen zwei Betrachtungen keine Rolle: 1. Die Analyse der Ursachen von Flucht und Migration. 2. Die Unverzichtbarkeit migrantischer Arbeitskräfte in den westeuropäischen Gesellschaften heute. Diese Punkte zu negieren, bedeutet Internationalismus und Solidarität als Sichtweisen auszuklammern. Und wer das tut, kann sich niemals als links bezeichnen, denn sie oder er negiert die Grundsätze des Sozialismus.

Bemühung um Einigung

In Die Selbstgerechten ist ständig die Rede von links und rechts. Das ist deshalb bemerkenswert, weil in Frequenzanalysen der Pressesprache sichtbar wird, dass der Anstieg der Verwendung dieser Adjektive für politische Zuordnungen erst in den späten 80er- und 90er-Jahren stark ansteigt. Die Verwendung der Begriffe links und rechts geht also mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus und der steigenden Boulevardisierung der Medien einher. Wer die Bücher und Interviews eines Bruno Kreisky oder die Werke anderer Sozialisten liest, wird sie in ihrem Sprachgebrauch kaum finden.

Das bedeutet aber nicht, dass die Sozialisten der Vergangenheit nicht mit bewegungsinternen Zwisten, Fraktionierung und Lagerstreitigkeiten kämpfen mussten. Ganz im Gegenteil: Gerade dieser Tage lese ich den Briefwechsel Viktor Adlers mit August Bebel und Karl Kautsky und bin erstaunt darüber, was für eine große Rolle derartige Themen spielen. Der Unterschied ist aber, dass im Mittelpunkt dieser Diskussionen die Bemühung um Einigung steht, die auch eine bestimmte Breite der Bewegung voraussetzt.

Muster des Rechtspopulismus

Wenn Wagenknecht in ihrem Buch Seite für Seite Linksliberale, Akademiker und Lifestyle-Linke geißelt und diese Begriffe durch betont häufige Verwendung mit rhetorischer Absicht aufzuheben versucht, fragt man sich: Sollen die so bezeichneten Personen oder Gruppen durch das Bündnis von Frau Wagenknecht auch »ein seriöses Angebot bekommen« oder sollen sie das Feindbild ihrer Politik werden?

Nicht nur, dass Wagenknecht der Personalisierung von Politik zuarbeitet, wie sie die Medienlogik des Kapitalismus fordert. Sie imitiert mit ihren Feindbildern auch ein typisches Muster des Rechtspopulismus. Wann immer Rechtspopulisten Regierungen oder Parteien kritisieren, verwenden sie das Stereotyp des Streitens. Eine zerstrittene große Koalition ist schlecht, das Parlament ist ein Ort, wo gestritten wird und so weiter. Damit wird nicht nur implizit das Führerprinzip in der eigenen Partei affirmiert, wie es Sebastian Kurz, Herbert Kickl oder auch Karl Nehammer machen, der sich wie der koreanische Diktator Kim Jong-un mit einer 100-Prozent-Mehrheit von der eigenen Partei wählen ließ – ein bizarres anti-demokratisches Schauspiel. Damit wird auch eine intrinsisch undemokratische Haltung ausgedrückt. Denn die Auseinandersetzung mit verschiedenen Standpunkten ist das Grundwesen der Demokratie und entspricht im Parlamentarismus der dialektischen Auseinandersetzung der Positionen der Bevölkerung durch ihre gewählten Vertreter.

Dem demokratischen Sozialismus den Rücken gekehrt

So kann und muss es auch innerhalb einer Partei sein. Man kann eine bestimmte Breite auch als Vorteil sehen. Das Gegenteil davon bedeutet, dass wichtige und schwierige Diskussionen nicht stattfinden. So will sich Wagenknecht offenbar gar nicht mit einer dialektischen Betrachtung des Krieges Russlands gegen die Ukraine auseinandersetzen – und an diesem Punkt zeigt sich deutlich, dass sie dem demokratischen Sozialismus den Rücken kehrt.

Wagenknecht stellt in ihrem Buch fest, die Linken spielten »der Rechten die Bälle zu«. Da will sie offenbar mit dabei sein, denn was sie durch die Zerstörung ihrer Fraktion macht, ist nichts anderes. Sie will aber auch gleichzeitig Nutznießer sein, indem sie selbst nach rechts rückt, um davon zu profitieren. Was das mit Sozialismus zu tun hat? Nichts.

Traurige Zeiten

Das Traurige an den Zeiten, in denen wir leben, ist die Fraktionierung von Menschen, die politisch gar nicht so weit auseinanderliegen. Hier gilt es dem Rechtspopulismus etwas entgegenzusetzen anstatt ihn zu imitieren und ihm nachzueifern. Hier braucht man eine Bewegung mit Zielen, also mit positiven Vorgaben; eine Bewegung, innerhalb derer eine bestimmte Breite erlaubt, ja sogar gewünscht ist, solange die Mitstreitenden Demokraten sind und an einer Solidarisierung der Gesellschaft und der Schließung der Schere Arm-Reich mitarbeiten wollen.

Das Traurige an den Zeiten, in denen wir leben, ist, dass sich Einzelpersonen über eine Bewegung, über die Bevölkerung, über die Demokratie stellen und dafür Vorbilder im Osten Europas und in der düsteren Geschichte Europas haben. Die westlichen Gesellschaften leiden darunter, dass das Zurücktreten des Einzelnen hinter die Interessen der Gemeinschaft heute nicht mehr als Tugend und Größe gilt, sondern als Zeichen der Schwäche. Solidarität, Rücksicht, Höflichkeit und das Wohl aller sind heute wertlos geworden. Auch für Sahra Wagenknecht.

Titelbild: Miriam Moné

Autor

  • Daniel Wisser

    Daniel Wisser ist preisgekrönter Autor von Romanen und Kurzgeschichten. Scharf und genau beschreibt er, wie ein Land das Gleichgewicht verliert.

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