Samstag, Juli 27, 2024

Politik und Verbrechen

Wie Rechtsextremisten Gewalttaten erlügen und ihnen mediales Storytelling in die Hände spielt. Zwei Lehrstücke.

Den großen Menschheitsverbrechen geht häufig die Angst vor Verbrechen voraus. Menschen sind leichter dazu zu bewegen, Gräueltaten zuzustimmen, wenn sie sich bedroht fühlen. Menschen sind auch leichter dazu zu bewegen, Extremisten zu wählen, wenn die es schaffen, ihnen eine eminente Bedrohung einzureden, zu deren Abwehr alle Mittel recht seien. Neu ist das keineswegs: Die Massengräber sind voll von Leuten, die in vermeintlicher Notwehr erschlagen wurden.

Wir kennen das aus der Geschichte: Den meisten Pogromen an Juden ging das Gerücht jüdischer Gewalttaten voraus, etwa von der Ermordung von Kindern.

Deswegen sind radikale Rechte so auf Verbrechen versessen. Und deswegen muss auch jedes Verbrechen, sofern möglich, in ein eingängiges Narrativ eingerahmt werden. Je simpler, umso besser. Die beliebte Erzählung: Verrohte, bestialische Andere bedrohen uns friedfertige, arglose Einheimische. Diese rechte Strategie hat es auch deshalb leicht, weil abscheuliche Verbrechen auch für Medien hervorragend funktionieren. Nichts schafft so viel Erregung und damit Aufmerksamkeit wie ein Verbrechen, das uns schaudern lässt. Von daher gibt es immer die mediale Versuchung, jedes Verbrechen auf eine möglichst grausige Weise zu erzählen. Wahrscheinlich ist das sogar tief eingebettet in die kulturellen Tiefentraditionen menschlicher Gesellschaften. Der bestialische Verbrecher muss als das ganz Andere dargestellt werden. Die gute Gesellschaft der Gesetzestreuen muss den Verbrecher auch zum großen Anderen stilisieren, um sich ihrer selbst zu versichern. Das „Wir“ braucht den Anderen. Das Gute braucht das Böse als Kontrast, um seine eigene Moralität zu beschwören.

Mit welchen Verbrechen Politik gemacht wird – und mit welchen nicht

Tatsächlich gibt es immer wieder Verbrechen, die einen schaudern lassen. Und tatsächlich sind daran immer wieder auch Zuwanderer und Flüchtlinge beteiligt. Messerattentate, Vergewaltigungen und sexueller Missbrauch, nicht selten im Drogen-, Dealer und Abhängigenmilieu, wie etwa der Tod eines jungen Mädchens vor einiger Zeit in Wien Donaustadt. Dazu gesellen sich islamistische Anschläge, Amokläufe von Psychotikern oder Bluttaten in Bandenkriegen.

Sie sorgen für Schlagzeilen. Anders als die Tötungsdelikte, die etwa von FPÖ-Mitgliedern und Funktionären begangen wurden. Immerhin mindestens sechs Tote in den vergangenen Jahren. Aber die sind schnell aus den Schlagzeilen verschwunden und werden als „Beziehungstaten“ mit einem schnellen Achselzucken als gewohnte Unerfreulichkeit abgetan, und kaum jemand käme auf die Idee sie etwa mit dem im rechten Milieu besonders vorherrschenden Männlichkeitsbild zu politisieren.

Brutale Verbrechen von Zuwanderern oder sonstwie „Anderen“ sind dagegen so essentiell für die rechtsextreme Propaganda, dass die tatsächlichen Verbrechen nicht ausreichen, sodass sie häufig erfunden werden oder das reale Geschehen so phantasievoll hingebogen wird, dass es mit der Realität nicht einmal mehr entfernt zu tun hat. Auch, weil in unser aller Köpfe schon Vorannahmen hineingetrommelt sind, sodass wir ein paar Informationsbruchstücke beinahe automatisch in eine bestimmte Richtung interpretieren. Und diese Interpretation ist oft falsch, wie man sieht.

„Junger Syrer erschlägt Familienvater“

Zwei Beispiele waren gerade in den vergangenen Monaten sehr aufschlussreich. In Österreich war ein Verbrechen einige Tage auf allen Titelblättern und ganz groß in der Berichterstattung. Vor einer Diskothek im Burgenland war ein 42-jähriger Familienvater von einem 16- und einem 18-jährigen – letzterer wurde als „Syrer“ vorgestellt – niedergeschlagen worden, sodass der Mann später verstarb. Bevor noch irgendetwas geklärt war, hatten sich die Bilder in den Köpfen verfestigt. Brutaler Flüchtling erschlägt Österreicher, noch dazu einen „Familienvater“. Erst Monate später stellte sich heraus, dass das Geschehen eher als tragische Verkettung bezeichnet werden muss, und dass an der ursprünglichen Geschichte praktisch nichts stimmte. Der 42-jährige hatte an diesem Abend gefeiert und war sehr betrunken. Zeugenaussagen zufolge soll er minderjährige Mädchen belästigt haben. Daher wurde er aus dem Club begleitet. Vor dem Club wurde er dann von den jungen Männern zur Rede gestellt. Dabei hat er einmal hingeschlagen. Der 18-jährige hat dann zu stark zurückgeschlagen, sodass der Mann fiel. Schon davor war er aber aufgrund seiner Alkoholisierung umgefallen und mit dem Kopf auf den Boden geknallt, sodass gar nicht geklärt werden konnte, was für die Verletzung, die später zum Tod führte, ursächlich war. Höchstwahrscheinlich haben die Teenager bei einem an sich richtigen Verhalten – Einschreiten bei Belästigung – das angemessene Ausmaß überschritten, mit tragischen Folgen. Wenige Wochen nach der erregten Presseberichterstattung wurden sie aus der U-Haft entlassen. Sie wurden später wegen versuchter schwerer Körperverletzung zu weitgehend bedingten Haftstrafen verurteilt. Das eine Monat unbedingter Haft war durch die U-Haft abgegolten.

Es versteht sich von selbst, dass diese Wendung der „Story“ kaum mehr überregionale Berichterstattung erfuhr.

Die Schlagzeile: „Junger Syrer erschlägt Familienvater“, sahen wahrscheinlich Millionen Menschen.

Die Wendung: „Alles doch ganz anders“, hat dann kaum mehr jemand mitbekommen.

„Araberbande überfällt ein ganzes Dorf“

Eine noch viel haarsträubendere Geschichte begab sich in den vergangenen Wochen in Frankreich. In Crépol in Südfrankreich habe in einer Kleinstadt in der Provinz eine Art Dorffest im Stadtsaal stattgefunden. In der Provinz, in der es nicht so viele Möglichkeiten zur Wochenendunterhaltung gibt, ist das so etwas wie die wöchentliche Disko. Die friedlichen französischen Dorfjugendlichen und -Bewohner hatten da unschuldigen Spaß, wurden dann aber, so wurde die Geschichte erzählt, von der brutalisierten Jugend einer Sozialbauanlage einer nahegelegenen Stadt überfallen. Ein brutales Pogrom sei das gewesen. Die Jugendlichen seien gekommen, um eine Blutorgie auszuleben. Ihr Hass auf das echte Frankreich habe sich brutal Bahn gebrochen. Schwerverletzte habe es gegeben, der 16-jährige Thomas sei am Ende erstochen zurückgeblieben. So hämmerten es sofort rechte Medien, so hämmerte es sofort die rechtsradikale Propaganda, so wurde es auf allen TV-Kanälen und im Netz erzählt. Politiker mussten sich zur Gewaltorgie von Crépol äußern, und sie alle taten es natürlich auf Basis der mittlerweile als allgemein gesichert behandelten „Fakten“, nämlich, dass arabische Jugendliche hier ihren bestialischen Instinkten gefolgt seien, Instinkten, vor denen die Gutmenschen bis heute sträflich die Augen verschließen würden.

Es gab rechte Wut-Demos gegen die „Einwanderergewalt“. Die Geschichte schien so klar, dass sie gar niemand mehr in Frage stellte. Das mediale System fand es nicht einmal angebracht, die Basics an Fakten zu klären. Bis nach einiger Zeit Reporter in die Region fuhren, mit Ermittlern sprachen, Dokumente und Beweise sichteten. Und siehe da: An der Geschichte stimmte praktisch gar nichts.

Das Stadtfest fand statt. Einzelne Feiernde teilten auf den sozialen Medien mit, dass es eine coole Party sei. Auch einzelne aus dem Sozialbau-Quartier und der nächstgrößeren Stadt bekamen das mit und fuhren hin. Man kennt sich ja, etwa aus der Schule. Keineswegs kamen die Jugendlichen aus der Stadt als „Überfall“, sie kamen noch nicht einmal als Gruppe. Mal fuhr ein Auto mit einer Handvoll Partypeople vor, später ein anderes. Es war auch eine ganz normale Fete. Bis in die Nacht wurde getanzt. Irgendwann gingen die Lichter an und die Musik war aus, wie üblich am Ende einer Partynacht. Dann waren alle draußen am Vorplatz. Dabei gab es irgendeinen Konflikt zwischen einer Handvoll Leuten. Nicht einmal größere Gruppen waren involviert. Der Anlass für den Konflikt ist noch unklar, die bisher kolportierten Storys klingen eher zu lapidar für eine Eskalation (einer soll sich über die langen Haare eines anderen lustig gemacht haben). Der 16-jährige Thomas wurde erstochen. Von wem, ist noch nicht einmal klar. Ermittelt wird jetzt gegen zwei Jugendliche und die Polizei musste extra bekunden, dass einer davon „historisch französische Namen und Familiennamen“ trägt.

Lügen sollen Hass schüren

„Die Befeuerung eines angeblichen Kulturkampfes zwischen jungen, weißen, zumeist katholischen Rugbyspielern vom Dorf und gleichaltrigen, muslimischen, eher Fußball spielenden Jungs aus der Banlieue ist eine trübe politische Masche“, resümierte die „Süddeutsche Zeitung“. Gestrickt werde diese „in Paris, in Fernsehstudios und Parteizentralen“.

Das ist noch eine freundliche Zusammenfassung. Man kann es auch so sagen: Sie lügen schamlos, erfinden brutale Verbrechen, die es gar nicht gab, biegen vorsätzlich die Dinge zurecht, um Hass in die Herzen der Menschen zu pflanzen, damit die Gesellschaft in Hader untergeht. Sie sind die wahren Verbrecher und wenn man sie ertappt, waschen sie ihre Hände in Unschuld.

Titelbild: Miriam Moné

Autor

  • Robert Misik

    Robert Misik ist einer der schärfsten Beobachter einer Politik, die nach links schimpft und nach rechts abrutscht.

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