Wir sind mehr! Der Moment, gegen den rechten Extremismus aufzustehen, ist jetzt.
Manche Geschehnisse wirken wie ein Wunder. Das Geheimtreffen von Rechtsextremisten, bei dem sie sich an ihren feuchten Träumen von massenhaften Deportationen und ethnischen Säuberungen aufgeilten, hat überraschenderweise das Fass in Deutschland zum Überlaufen gebracht. Millionen Menschen hatten offenbar schon länger das Empfinden, dass es langsam reicht. Und seit den Enthüllungen gibt es Riesendemonstrationen, nicht nur in Berlin, in Hamburg – mit mehr als Hunderttausenden, die an die Alster strömten, sodass die Demonstration sogar abgebrochen werden musste. 40.000 in Frankfurt, zigtausend in Nürnberg, mehrere zehntausende Menschen in Leipzig, 200.000 in München, bis zu 300.000 in Berlin.
Alleine am vergangenen Samstag haben insgesamt 380.000 Menschen demonstriert – an einem einzigen Tag. Am Sonntag waren es noch viel mehr.
Tja, die Identitären träumten ja immer, dass „das Volk“ aufsteht und massenhaft die Straßen der Städte besetzt. Das haben sie jetzt hingekriegt. Ganz anders, als sie sich das ausgemalt haben.
Auch in Wien wird es am kommenden Freitag um 18 Uhr eine erste, recht flott organisierte Kundgebung geben. Ort: Ringstraße, vor dem Parlament. Es werden auch hier zehntausende kommen.
Also, Wien, zeig am Freitag, dass du auch so viel zuwege bringst wie Hamburg. Alles andere wäre ja peinlich.
Es ist offenkundig und ohne jeden Zweifel, was die vielen hunderttausenden Menschen auf die Straße bringt: Sie wollen aufstehen gegen die extreme Rechte. Aufstehen gegen die permanente Vergiftung des Klimas. Aufstehen gegen die dauernden Versuche und die Gefahr, dass unsere pluralistische Demokratie und der Geist der Liberalität vor die Hunde gehen. Aufstehen gegen den völkischen Wahn und die atemberaubende Spirale der rechten Radikalisierung.
Was ist die Wirkung von Demonstrationen?
Oft wird so salopp gesagt, es gehe dabei darum, endlich „ein Zeichen zu setzen“. Natürlich ist es gelegentlich auch wichtig, Zeichen zu setzen. Gewiss ist das Menschen auch wichtig. Aber mit bloßen Zeichen ist es nicht getan. Diejenigen, die jetzt auf die Straße strömen, wollen auch eine Wirksamkeit erzielen. Die rechtsextreme Welle zurückzudrängen.
Aber helfen solche „Demos gegen Rechts“ auch tatsächlich „gegen Rechts“?
Zunächst einmal sollte man mit der Sprache präzise umgehen. Man demonstriert nicht gegen „Rechts“, sondern gegen „Rechtsextremisten“. Denn „rechts“ ist auch Friedrich Merz. Aber es wird nicht gegen Politiker der demokratischen Rechten demonstriert, solange sie nicht die Brandmauer abreißen, die sie von Rechtsextremisten und Faschisten trennt. Wenn Mitte-Rechts-Politiker oder Menschen mit konservativen Einstellungen an den Demonstrationen teilnehmen, dann sollen sie willkommen sein. Man sollte ihnen die Hürde nicht zu hoch legen.
Und natürlich helfen solche Demonstrationen gegen den Rechtsextremismus. Sie setzen nicht nur ein Zeichen, sie entfalten auch eine Wirkung. Und zwar auf dreierlei Weise.
Unser größter Feind: Lethargie, Larmoyanz und Resignation
Erstens: Sie sind zunächst einmal ein Element in der öffentlichen Meinungsbildung, im Kampf um die Hegemonie, wie etwa auch das mediale System, das System der Diskurse, die eine Gesellschaft dominieren. Und da spielen Emotionen eine große Rolle.
Zuletzt war es so: Die große Mehrheit der Demokraten war lethargisch, frustriert, ja beinahe resigniert. Und die kleine Minderheit der Radikalen hat schon geglaubt, jetzt schlägt ihre Stunde. Sie dachten, sie haben das Volk hinter sich.
Großdemonstrationen sind auch emotionale Ereignisse, Gemeinschaftserlebnisse. Sie setzen nicht nur ein Zeichen, sie geben denen, die ein solches Gemeinschaftserlebnis haben, auch Energie. Sie vertreiben die Resignation. Man spürt das ja jetzt in Deutschland, es strahlt sogar schon zu uns nach Österreich aus. Sie geben Schwung für das notwendige Engagement der nächsten Monate. Denn es ist fünf vor zwölf. Es ist an jedem, um jede Stimme zu kämpfen, kein Gespräch, keine Diskussion zu scheuen, im Betrieb, im Verein, im Wirtshaus, in der Familie.
Das ist die eine Seite der Wirksamkeit: Dieser Aufstand gegen den Rechtsextremismus gibt den Demokraten Kraft.
Wir sind das Volk – nicht ihr!
Es gibt aber, zweitens, auch noch eine andere Seite der Wirksamkeit: Natürlich beeindruckt es auch die Rechtsextremisten, und vor allem deren Sympathisanten und Mitläufer. Sie fühlten sich schon als die Mehrheit, glaubten, sie repräsentieren das Volk. Wenn sie sehen, dass sie die schweigende Mehrheit gegen sich haben, diese schweigende Mehrheit auch aufsteht, dann beeindruckt sie das. Es drängt sie in die Defensive.
Sie fühlten sich bisher, als hätten sie den Wind im Rücken. Jetzt bläst er ihnen ins Gesicht.
So wie das eine alte Frau, die vergangenes Wochenende zu ihrer ersten Demonstration in ihrem Leben ging, sagte, man könne zwar nicht alle Rechtsextremisten überzeugen, „aber wir können ihnen zeigen, wo sie stehen – nämlich am Rande der Gesellschaft“.
Schließlich gibt es noch ein drittes Element der Wirksamkeit, das wir nicht übersehen sollten. Ja, wir sind alle Opfer der rechtsextremen Hasspolitik, sie verleidet uns allen das Leben. Aber manchen verleidet sie das Leben mehr als anderen. Viele unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Migrationshintergrund – egal ob österreichische Staatsbürger oder nicht – empfinden den zunehmenden Rassismus von Politik und öffentlichen Diskursen als Bedrohung. Ihnen wird täglich mitgeteilt, sie gehören hier nicht her. Ja: Du wirst hier nie dazu gehören, wie sehr du dich anstrengst. Sie werden an den Rand gedrängt durch das tägliche Gift, mit dem „Ausländer“ mit „kriminell“ gleichgesetzt wird. Kinder gehen täglich auf dem Weg zur Schule an Plakaten vorbei, die die völkische Reinheitsideologie der Rechtsradikalen verbreiten und sie noch mehr zu Fremden in ihrem eigenen Land macht. Jetzt schwadroniert man auch noch offen von Deportationen und Massenvertreibungen. Wer eine Spur von Einfühlungsvermögen und Empathie im Leib hat, der weiß: Das macht Menschen Angst. Es traumatisiert sogar.
Hände weg von unseren Kumpels!
Es hat daher auch eine Wirkung, wenn die Mehrheit deutlich macht: Unsere Nachbarn, unsere Freunde, unsere Schulkameraden, unsere Arbeitskollegen werdet ihr nicht vertreiben!
Es ist notwendig. Es ist überfällig. Wir sind mehr. Genug ist genug! In dem Geist der legendären Kampagne von SOS Racisme aus Frankreich der 1980er Jahre: „Touche pas à mon pote“ – „Hände weg von meinem Kumpel!“
Massendemonstrationen haben eine Wirkung. Aber klar, es ist mit ihnen nicht getan. Es wird nötig sein, in den kommenden Monaten zwei, drei Mal eindrucksvoll auf den Straßen zu stehen. Das ist wichtig, aber damit ist nicht gesagt, dass es ausreichend ist. Es wird auf die Zivilgesellschaft im ganzen Land ankommen, von den großen Städten bis ins kleinste Dorf. Es liegt an jedem von uns.
Titelbild: Miriam Moné