Samstag, Juli 27, 2024

Die degagierte Gesellschaft

Wer am Freitag gegen Rechts aufsteht, steht auch gegen die heutige ÖVP auf. Sie hat vor kurzem ihr Wahlprogramm ausgegeben. Es ist nicht mehr, als eine Kopie des FPÖ-Programms geworden.

Ich bin als Sohn eines überzeugten Sozialisten aufgewachsen, dessen bester Freund ein überzeugter Konservativer war. Nicht nur der Freund selbst, seine ganze Familie war bürgerlich-konservativ, eine seiner Töchter Nationalratsabgeordnete der ÖVP, sein Schwiegersohn Spitzenpolitiker der ÖVP. Zwischen meinem Vater und seinem Freund gab es in vielen Fragen Uneinigkeit, da und dort heftige Diskussionen, aber es rannte auch der Schmäh. Und es blieb immer bei der Freundschaft.

Die Stimmung, in der man aufwächst, hält man als Kind für gegeben. Man kann sich nicht vorstellen, dass die Welt jemals anders sein könnte; und erst ein klarer Blick und Ehrlichkeit zu sich selbst müssen einen schmerzlich davon überzeugen, dass das, was man für selbstverständlich hielt, nur die Umstände einer kurzen Zeitspanne waren. Jüngere verdrehen die Augen, wenn man von Dingen spricht, die sich fünfundzwanzig Jahre vor ihrer Geburt zugetragen haben. Verständlicherweise.

Der Rechtsruck ist aufhaltsam

Ich kann aber meine Geschichte nicht ändern und es ist mir eine Herzensangelegenheit, sie weiterzugeben, weil ich sicher bin: Der Rechtsruck, der in unserem Land stattfindet, ist aufhaltsam. Eine rechte Regierung ist verhinderbar, weil sie vielleicht über eine Mehrheit verfügt, aber nicht über eine absolute Mehrheit. Es gehört zur Schande Westeuropas, dass Hitler, Mussolini, Dollfuß und viele andere nicht verhindert werden konnten, obwohl sie über keine absolute Mehrheit verfügten, als sie die Macht übernahmen. Es hätte eine absolute Mehrheit gegen sie gegeben. Das Ziel der Rechten ist also, diese Mehrheit zu spalten.

Wollte ich die Gruppen jener definieren, die bei der nächsten Nationalratswahl FPÖ wählt, teilte ich sie in drei Gruppen:

1. Personen, die wirtschaftlich von der FPÖ in der Regierung profitieren werden; das sind Großkapitalisten (wie z. B. die Glocks) und natürlich ihre Politiker samt Anwälten, und Beratern.

2. Personen, die sich ein autoritär regiertes Land und größeren Einfluss osteuropäischer Oligarchen und Diktatoren wünschen.

3. Personen, die von anderen politischen Bewegungen und/oder von ihrer persönlichen Entwicklung frustriert sind und die sich durch gesellschaftliches Degagement dafür rächen wollen.

Die kopierte Strategie

Die größte Gruppe ist unfraglich die Dritte. Das weiß auch die ÖVP. Ihre Reaktion darauf ist keine politische Antwort des bürgerlichen Lagers, sondern das Duckmäusertum des Kleinbürgers – jenes fatale Achselzucken, mit dem die Biedermänner den Brandstiftern mitsamt ihren Benzinfässern und Streichhölzern Unterschlupf auf ihrem Dachboden gewähren. Die ÖVP versucht nicht, die konservative Politik zu machen, die ihre Kernkompetenz sein sollte, sie versucht nicht, Nicht-Wähler anzusprechen, Wähler von NEOS, Grünen und SPÖ anzusprechen und ihnen ein Angebot zu machen. Nein, man hat Herbert Kickls dümmste Sprüche auf den Kopierer gelegt, kopiert, die Zettelsammlung geheftet und zur »Wahlkampfstrategie« erklärt.

Verlogen ist das Programm hier wie dort, denn schon allein verschärfte Sicherheitsmaßnahmen sind ein Hohn, wenn sie ein Kanzler fordert, der als Innenminister die Warnungen anderer Geheimdienste vor Terroristen ignoriert und damit einen Anschlag ermöglicht hat. Nun will er die Bevölkerung strenger überwachen, weil er Terroristen gewähren lässt. Sicherer als unter Kickl oder Nehammer ist in Österreich kein islamistischer Terrorist, denn beide brauchen sie für ihre falschen Ankündigungen. Herbert Kickl hat das Sicherheitspaket, das er noch als Oppositionspolitiker als »DDR 4.0« beschrieben hat, als Minister selbst umgesetzt: Er steht für die Überwachung der Bevölkerung – und das Gewährenlassen von tatsächlichen Terroristen.

Kopiere und schreddere

Der Mann am Kopiergerät der ÖVP heißt Gerald Fleischmann. Sein Wahlspruch ist nicht »Teile und herrsche!« sondern »Kopiere und schreddere!« Er ist das Zentrum einer parteiinternen Ausgrenzung der bürgerlichen Kräfte, die diese Partei einmal ausgemacht haben. Zusammen mit Sebastian Kurz hat er nur eine Strategie verfolgt: Geld von Reichen und Großunternehmern sammeln, die Medien anfüttern und in einem nie dagewesenen Korruptionsprozess so viele öffentliche Stellen wie möglich mit Weggefährten und ÖVP-Bürgermeistern besetzen.

Diesen Gerald Fleischmann wird die ÖVP nicht mehr los, denn wenn er vor Gericht auspackt, muss das Personal der WKStA möglicherweise verachtfacht werden. Gerald Fleischmann hat keine Wurzeln in politischer Basis- oder Gremienarbeit. Er ist Schreibtischtäter. Sein Ziel ist Macht um jeden Preis. Karl Nehammer ist ein Faktotum, das dieses »Programm« aufsagen muss.

Die Probleme der ÖVP

Und es gibt Probleme. Problem 1: Die Reichen und Großunternehmer sahen ihre Wahlkampfspenden als Investitionen und wollen ihr Geld mehrfach zurück. Mit gigantischer Reichen- und Großkonzernförderung (auch durch die COFAG) hat die ÖVP mit FPÖ und Grünen zig Milliarden der Steuerzahlenden von unten nach oben verteilt. Das Ergebnis: Eine gigantische Inflation, die weit über der im Euroraum liegt und gegen alle Grundsätze spricht, die die Volkspartei in den letzten Jahren vertreten hat.

Problem 2: Noch halten die ÖVP-korrumpierten Medienhäuser ihrem Geldgeber die Stange, aber viele Journalistinnen und Journalisten fragen sich bereits, ob das vertretbar ist. Das Ergebnis: Niedergang der Medienlandschaft und Boulevardisierung; immer mehr rechtspopulistische Medien mit Staatsförderung entstehen.

Der siebente Zwerg von links als zweithöchster Mann im Staat

Problem 3: Die Schar derer, die mit türkisen Fingernägeln und Fahnen und Propagandavideos den Führer Kurz gepusht haben, hören nicht auf, nach oben zu wollen. Früher gab man ihnen Thomas Schmids Telefonnummer. Jetzt hat man ihnen nichts zu bieten; sie lassen sich aber von der einst mit Durchgriffsrecht gegen Lokalpolitiker und den »siebenten Zwerg von links« (Zitat: Andreas Khol) ausgestatteten Bundesparteiführung nichts mehr sagen. Nur so ist es zu erklären, dass ÖVP-Politiker, denen weder geschriebenes Recht noch ungeschriebener Usus etwas bedeuten, noch auf ihrem Posten sitzen. Die Bundespartei ist zu schwach, zu tun, was notwendig wäre. Kleine und große Politiker sind untragbar geworden: vom Bürgermeister von Vösendorf bis zum Ersten Nationalratspräsidenten.

Was Karl Nehammer kürzlich offensichtlich als Wahlkampfprogramm ausgegeben hat, war erwartbar und zeigt das bescheidene Niveau und den engen Horizont Gerald Fleischmanns, dessen Welt- und Weitblick gerade bis zum Rand von Herbert Kickls Teller reicht.

»Gegen Rechts aufstehen« heißt auch gegen die heutige ÖVP aufstehen

Wenn sich Österreich am Freitag in einer Demonstration gegen Rechts erhebt, dann erhebt es sich nicht nur gegen die FPÖ. Es erhebt sich auch gegen jene Gruppe in der ÖVP, die seit einigen Jahren die Macht in der Partei hat und die genauso weit rechts steht wie die FPÖ Herbert Kickls. Nicht umsonst ruft die ÖVP nicht zur Teilnahme an dieser Demonstration auf.

Mit dieser ÖVP gibt es keine Rückkehr zu einer Gesellschaft des Konsens, der Solidarisierung und des Engagements. Mit dieser ÖVP bleiben Geschichten wie die meines Vaters und seines Freundes nichts als Anekdoten aus einer Zeit, an die sich bald niemand mehr erinnern wird.

Titelbild: Miriam Moné

Autor

  • Daniel Wisser

    Daniel Wisser ist preisgekrönter Autor von Romanen und Kurzgeschichten. Scharf und genau beschreibt er, wie ein Land das Gleichgewicht verliert.

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