Der Mob im Web 2.0 ist heute eine wirkungsvolle, beängstigende Kraft. Doch mediale Attacke wird gezielt erzeugt und eingesetzt – und ihre Mechanismen sind ganz und gar nicht neu.
In den vergangenen zwei Wochen haben viele Userinnen und User Twitter verlassen. Sie ertrüge die Niedertracht der Postings dort nicht mehr, schrieb eine Userin. Anlassfall war die Hetze gegen eine renommierte Journalistin, die wieder einmal klargemacht hat, dass das Web 2.0 kein Ort der demokratischen Diskussion ist und – schlimmer noch – sich der Möglichkeiten der Regulierung längst entzogen hat.
Twitter ist eine Waffe. Sie gehört einem Menschen. Dieser Mensch pusht rechtsextreme Politik und betreibt sie mit seinem Medium selbst. Regierungen können Tausende Richtlinien für KI (wie heute ohnehin jede Art von Software genannt wird) beschließen, sie werden damit nichts ausrichten. Niemand weiß, was im Quellcode der Twitter-Algorithmen steht, niemand weiß, welchen Regeln dort der Umgang mit Accounts folgt, die zur Manipulation interaktiv (also von einem Menschen) oder programmiert (also durch Software, die User erzeugt) angelegt wurden, und ob die sogenannten Fake-Accounts, die man kaufen kann, nicht auf verdecktem Wege von Twitter selbst verkauft werden.
Den Mob in Bewegung setzen
Die Diskussion geht aber an der Sache vorbei, wenn dem Medium allein die Schuld an den Hetzkampagnen und an der von dort aus befeuerten Radikalisierung der Gesellschaft gegeben wird. Gemacht wird Hetze und Radikalisierung von Menschen. Gemacht wird Software von Menschen. Verändert hat sich mit dem Web 2.0 und mit der weltumspannenden Verwendung von Smartphones die Reichweite, die es heute ermöglicht, binnen kürzester Zeit, einen Mob in Bewegung zu setzen, der Verheerendes anrichtet. Das Brandgefährliche daran ist, dass ein Großteil der Userinnen und User, die sich diesem Mob anschließt, das völlig gedankenlos tut, mit ein paar Wischern, während man in der U-Bahn steht.
Die Art wie diese Hetzkampagnen funktionieren hat aber zunächst Voraussetzungen, die nicht in der Funktionsweise des Web 2.0 begründet liegen, sondern in der Boulevardisierung kapitalistischer Medien.
1.) Sie ersetzen Meinungsbildung durch binäre Logik: Gut oder Böse.
2.) Sie bringen nur mehr den Anlass für entweder Entrüstung und Hass oder Jubel und Zustimmung, argumentieren aber nicht mehr oder wägen gar Argumente ab.
3.) Jede Diskussion wird radikal personalisiert, d.h. auf Einzelpersonen heruntergebrochen.
4.) Die Entscheidung über eine Diskussion wird auf einen Kampf reduziert.
„Duelle“ statt Diskussion
Letzteres sehen wir in den Jahr für Jahr dümmer werdenden Fernsehdiskussionen vor Wahlen, die ja bereits als Duelle tituliert werden. X GEGEN Y, heißt es bezeichnenderweise. Hier sprechen also vermeintlich nicht Spitzenkandidaten einer Partei, die für Stimmen bei der Nationalratswahl werben und dem Publikum erklären, welche Politik sie machen wollen und warum. Nein, hier sollen zwei Menschen einander duellieren. Es muss einen Sieger geben. Und noch wichtiger: einen Verlierer. Denn der Mob ist hauptsächlich an negativen Ergebnissen interessiert: Jemand soll »gegrillt werden«, vernichtet werden.
Das zeigt sich auch in der zeitgenössischen Interviewführung, deren Kern auf das Duell einer Moderatorin oder einem Moderator mit einer Politikerin oder einem Politiker heruntergebrochen wird. Aufgrund von ein paar Sekunden langen Video-Snippets treffen die meisten Menschen dann ihre Entscheidung: Wer hat gewonnen? Ist jemand gut oder böse? Wobei dieses Snippet natürlich von einem anderen User geteilt oder weitergeleitet wurde, was bereits suggestive Wirkung auf dem Empfänger ausübt.
Hass-Listen
Damit ist ein Großteil des Mobs steuerbar. Die Zielperson wurde bewusst ausgewählt. Hass-Listen dafür gibt es bei den Boulevardmedien seit Jahrzehnten. Auf der schwarzen Liste der Kronen Zeitung stand immer schon Elfriede Jelinek. Ihr Werk wurde von einem Krone-Autor als »penetranter Dreck« bezeichnet. Gerne springen andere auf den Zug auf. Ein Politiker der FPÖ, in der viele begnadete Ärztinnen und Ärzte tätig sind, die des Medizinstudiums gar nicht bedurften, diagnostizierte bei Jelinek unlängst eine Geisteskrankheit und riet ihr, sich therapieren zu lassen. Und natürlich steht auch Alexandra Föderl-Schmid auf der schwarzen Liste eines Boulevardmediums. Es ist ja hinlänglich bekannt, wie die Sache ihren Anfang nahm. »Ein so ein Tausender ist seine Tausend wert« heißt es in H. C. Artmanns balade fon da zuagschbeadn gredenz, an deren Ende die Zimmerfrau Weißenböck mit einem Nudelwalker erschlagen wird.
Es ist ein uraltes Spiel der Boulevardmedien, sich selbst als Opfer von Angriffen darzustellen, in Wirklichkeit aber die persönliche Attacke zu ihrer gewohnten Arbeitsweise gemacht zu haben. Die Hass-Liste liegt vor. Nun ist jeder Anlass willkommen, um eine Person, die auf der Hass-Liste steht, zur Attacke preiszugeben. Mit dem Web 2.0, das ohne zeitliche und räumliche Schranken arbeitet, und mit der sich ständig reduzierenden Reflexion der Menschen über dort gepostete Inhalte, erreicht diese perfide Taktik eine neue Dimension. Natürlich war es dann nie das Medium selbst, das an der Entwicklung schuld ist. Es schafft den Referenzrahmen und es braucht nicht einmal eine ausgesprochene Anordnung zur Attacke, um den Mob zu bewegen. Wie gut das funktioniert, beweist mit sozialpsychologischen Experimenten gründlich untermauert das Buch Täter – Wie ganz normale Menschen zu Massenmödern werden von Harald Welzer. Ein Buch, das meiner Meinung nach, jede und jeder gelesen haben sollte.
Auswege
Bleibt die Frage nach möglichen Auswegen. Als gesellschaftliches Phänomen wird man den Online-Pranger und die Online-Hetze wohl nie loswerden; schon gar nicht, wenn die Super-Reichen heute in der Lage sind, als Einzelpersonen Medien zu kaufen. Dazu wäre die ständige Anstrengung nötig, wirkliche Information zu fördern und dem Boulevard keinerlei staatliche Förderungen zu geben.
Doch in einem Land, in dem die Wiener Zeitung eingestellt und exxpress.at mit Millionen subventioniert wird, in einem Land, in dem im öffentlich-rechtlichen Fernsehen am Todestag von Jean-Luc Godard eine Rosamund-Pilcher-Verfilmung läuft, in einem Land, in dem das am ausführlichsten und differenziertesten berichtende Radio, nämlich Ö1, von der Politik nach Plan mit einem Nudelwalker erschlagen und getötet wird, besteht wohl kaum Aussicht darauf. Es ist ein unvorstellbarer und tiefer Fall der Partei der Grünen, dass sie kritiklos, ja sich selbst sogar dafür lobend, an diesen Schandtaten mitgewirkt hat. Ihre Medienpolitik unterscheidet sich in nichts von der der FPÖ.
Die Klage über das Geschehene, die anlassbezogenen und wieder nur auf eine Person reduzierten Analysen des Phänomen, sind auch wieder nur Reflexe des kapitalistischen, boulevardisierten Medienmarkts. Daran sieht man seine Perfidie. Und am Ende ist es natürlich niemand gewesen, der hier mit Steinen geworfen hat. Die einen Verstecken sich und die anderen verstecken sich nicht einmal. Wer von beiden niederträchtiger ist? Mir fällt die Entscheidung schwer.
Titelbild: Miriam Moné