Freitag, Dezember 13, 2024

Wer „Hausverstand“ sagt, will meist betrügen

Die ÖVP hat einen neuen Lieblingsslogan. Doch in komplexen Gesellschaften gibt es kaum ein Problem, das man mit Einsatz von „Hausverstand“ lösen kann.

Die politische Kommunikation ist eine große Phrasendreschmaschine. Teils liegt das an der Unfähigkeit, sich auszudrücken, auch an einfacher Schlampigkeit, aber das Parolengelaber mag auch Ausdruck von Einfältigkeit sein, wie schon George Orwell anmerkte: „Die Schlampigkeit unserer Sprache erleichtert es uns, dümmliche Gedanken zu haben.“

Politische Prosa bestehe weniger und weniger aus Worten, die ihrer Bedeutung wegen ausgewählt werden, sondern, so Orwell, „mehr und mehr aus Phrasen, die zusammengetackert werden wie die Teile eines windschiefen Hühnerstalls“.

Vom „Abholen“ und „Einordnen“

Gerne sagen Politiker jeder Couleur – oder Kommentatoren, die glauben, sie hätten für Politiker gute Ratschläge parat –, man müsse die Menschen „abholen“. Damit ist gemeint, dass die Bürger und Bürgerinnen, diese geistig etwas minderbemittelten Zeitgenossen, nicht schlau genug sind, die hehren Absichten oder die brillanten Ideen der Politiker auf Anhieb zu verstehen, deswegen müsse man sie „abholen“ und langsamen Schrittes an die Erkenntnis heranführen. Man hat da gleich das Bild eines hilflosen Kindergartenkindes vor sich, das man nicht alleine auf die Straße lassen darf, sondern abholen und bei der Hand nehmen muss.

Ich hasse dieses Sprachbild.

Nun ja, sollte demnächst vielleicht Herbert Kickl eine rechtsautoritäre Regierung bilden, würde die Phrase, man „müsse die Menschen abholen“, wohl einen neuen Beiklang bekommen. „Fahndungslisten“ hat er ja schon, was das „Abholen“ der Menschen erheblich erleichtern würde.

Ähnlich fuchsig macht mich eine Plattitüde, die besonders bei Journalisten beliebt ist: es ist Mode geworden, davon zu sprechen, die journalistische Tätigkeit bestehe im „Einordnen“.

Jeder Kommentar mit drei Absätzen ist heute schon eine „Einordnung“.

Ich weiß ja nicht, ob die Aufgabe der kritischen Publizistik tatsächlich mit Metaphern aus der Welt der Regalschlichter im Supermarkt angemessen beschrieben ist, die die Waren einordnen. Letztendlich ist es eine völlig sinnfreie Metapher, denn wie immer man die kritische Unterscheidung, das Abklopfen von Forderungen oder Vorschlägen auf Praktikabilität, Wahrheitsgehalt und so weiter, charakterisieren mag, „eingeordnet“ wird da eigentlich gar nichts.

Hausverstand als politische Walze

Besonders beliebt ist neuerdings wieder der „Hausverstand“. Reinhold Lopatka, ÖVP-Spitzenkandidat zur Europawahl, will überhaupt mehr Politik mit Hausverstand. Mehr Hausverstand für Europa, eine Klimapolitik mit Hausverstand, in der Migrationsfrage will er mehr Hausverstand, überall will er mehr Hausverstand. Auch in Karl Nehammers jüngster Rede kam der „Hausverstand“ häufig zu Ehren.

Nun ist gegen „Hausverstand“ nichts einzuwenden, wenn darunter eine Art von geerdeter Vernünftigkeit verstanden wird, die gegen weltfremde Phantasien aus dem Wolkenkuckucksheim gesetzt wird.

Unschuldige Phrase ist das Gerede vom „Hausverstand“ aber nie, denn jede politische Konzeption zeichnet sich dadurch aus, polemisch gegen eine Art von Feind gesetzt zu werden. In dem Fall: einerseits, gegen „Radikale“, die immer alles gerne viel zu schnell, viel „zu extrem“ hätten. Und andererseits gegen Wissenschaftler, Intellektuelle, Experten, die komplizierte Konzeptionen entwickeln, während der Hausverstand doch immer schon weiß, wie die Dinge auf einfache Weise gelöst werden können. Beim Branntweiner wissen sie immer, wie die Dinge leicht zu regeln wären, nur diese nervigen Fachleute verkomplizieren immer alles.

Leider gibt es in komplexen Gesellschaften, in denen alles mit allem zusammenhängt, meist keine Probleme, die mit dem Einsatz von Hausverstand gelöst werden können. Gibt es Arbeitslosigkeit, dann sagt der neoliberale Hausverstand, dass man nur den Druck auf die Arbeitslosen erhöhen müsse, auch schlechte Arbeit anzunehmen, dann würde sich das Problem der Arbeitslosigkeit schon von selbst lösen. Tatsächlich kann das bis zu einem gewissen Grad gelingen. Dann würde man allerdings einen Niedriglohnsektor etablieren, das Qualifikationsniveau der Beschäftigten würde sinken (da sie gezwungen sind, sehr schnell Arbeit unter ihrem Qualifikationsniveau anzunehmen), und die sinkenden Einkommenslevel im Schlechtverdiener-Segment würden dann auch auf die jeweiligen höheren Einkommensgruppen ausstrahlen. Am Ende würden alle Einkommen sinken, die Konsumnachfrage auch, und man hätte erst recht eine ökonomische Krise, sinkende Unternehmensumsätze und wachsende Arbeitslosigkeit.

Also genau das Gegenteil von dem, was man eigentlich erreichen wollte. So geht es recht häufig mit den Hausverstands-Lösungen.

Oder, anderes Beispiel, der Bau- und Immobilienmarkt. Um die Überhitzung der Immobilienpreise zu bekämpfen, hat die Nationalbank die Kreditvergaberichtlinien verschärft. Praktisch zeitgleich, das war so nicht planbar, zog die Inflation an, die Baupreise stiegen, und die Europäische Zentralbank erhöhte zwecks Inflationsbekämpfung die Kreditzinsen. Deswegen sinken die Grundstückspreise und die für Bestandsimmobilien, was an sich eine gute Sache ist. Aber leider brach dadurch auch die Baukonjunktur ein und es droht eine Insolvenzwelle bei den Baufirmen und Massenarbeitslosigkeit in der Baubranche. Wenn weniger gebaut wird, gibt es irgendwann noch weniger Angebot an bezahlbarem Wohnraum, und das Ziel, die Wohnkosten zu reduzieren, wird erst recht unerreichbar. Man kann dieses Problem sicherlich lösen (etwa mit Aufstockung der Wohnbauförderung und Regeln, die die Mittel vornehmlich dem gemeinnützigen, geförderten Wohnbau zuführen), aber nur mit schlauen Lösungen. Schlaue Lösungen sind solche, die der Komplexität der Sache gerecht werden und in einer Art von Simulation schon möglichst alle nichtintendierten Nebenfolgen mitbedenken. Mit Hausverstand kommt man da eher nicht sehr weit.

Komplexität übersteigt Hausverstand

Nicht mal die schlausten Köpfe können alle möglichen unerwarteten Nebenfolgen oder Ausweichstrategien von gesetzesunterworfenen Bürgern und Bürgerinnen antizipieren, deswegen haben auch die klügsten Politiker Fachleute um sich, mit denen sie sich in kleineren oder größeren Kreisen beraten.

Ich wüsste auch nicht, wie man mit „Hausverstand“ die Probleme mit Migration löst. Bedenken wir einmal die „Eckpunkte“.

Erstens: Wir brauchen und wollen Migration.

Zweitens: Wir haben uns an die Diversität von Einwanderungsgesellschaften gewöhnt, in der breiten Mitte der Gesellschaften ist sie akzeptiert.

Drittens: Wir brauchen aber Regeln und eine Kontrolle der Migrationsströme.

Viertens: Wer politisch verfolgt ist oder Opfer von Krieg und Vertreibung, hat Anrecht auf Schutz.

Fünftens: Ein Rechtsstaat muss dann prüfen, wer dieses Recht hat.

Sechstens: Rechtsverbindliche Entscheidungen regeln dann, wer bleiben kann und wer nicht.

Siebtens: Zuviel ungeregelte Immigration kann die Aufnahmekapazitäten von Gesellschaften überfordern.

Achtens: Ohne Rücknahmeabkommen mit Herkunftsländern wird es keine brauchbare Lösung geben.

Neuntens: Herkunftsländer wie Marokko oder andere werden Rücknahmeabkommen nur dann schließen, wenn sie davon auch etwas haben, denn diplomatische Deals zwischen unterschiedlichen Nationen werden üblicherweise nur dann zustande kommen, wenn es wechselseitige Vorteile gibt – und nicht, wenn nur eine Seite Vorteile hat, eine nur Nachteile. Wer hier glaubt, mit „Hausverstand“ etwas geregelt zu bekommen, ist ein närrischer Phantast.

Entscheidungen ignorieren wichtige Details

Man muss noch nicht einmal ein Anhänger von Niklas Luhmann und der „Systemtheorie“ sein, der zu dem deprimierenden Schluss kam, dass das „politische System“ im Grunde heute mehr Umweltdaten zu berücksichtigen hätte, „als es berücksichtigen kann“, weshalb das „prinzipienlose Lavieren“ eigentlich das Beste sei, was wir noch erwarten können. Jeder Eingriff zur Lösung eines Problems würde eine unbekannte Zahl nichtintendierter Folgen zeitigen, die ihrerseits nur zur Ursache neuer Probleme würden.

Wie auch immer, eines ist wohl unbestreitbar: Probleme komplexer Gesellschaften bekommt man nicht mit „Hausverstand“ geregelt, im Gegenteil, wahrscheinlich bestehen viele dieser Probleme gerade deshalb, weil irgendwer glaubte, er hätte die eine, simple Lösung gefunden. Das Skurrile ist ja: Die allermeisten normalen Menschen, also denen sich das Gerede vom Hausverstand anbiedern möchte, wissen das ja auch, dass die Dinge kompliziert sind und man für widerstreitende Interessen und Ziele eher balancierte Lösungen braucht. Wer von Hausverstand schwadroniert, der hält die Menschen für dümmer, als sie sind, was letztendlich ja eine Beleidigung der Bürgerinnen und Bürger ist. Wer „Hausverstand“ sagt, der will betrügen.

Titelbild: Miriam Moné

Autor

  • Robert Misik

    Robert Misik ist einer der schärfsten Beobachter einer Politik, die nach links schimpft und nach rechts abrutscht.

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