Karl-Markus Gauß beendet seine Kolumne in der Süddeutschen Zeitung. Seit 2016 hat er – ein Schreibender, Lesender, Denkender, aber auch ein die politische Gegenwart Kommentierender – die Zeitungslesenden in schwierigen Zeiten mit scharfen Beobachtungen und Formulierungen bereichert. Nun nimmt er unsentimental Abschied.
»Denn ich glaube immer noch, dass der Grundsatz gilt, dass das Recht der Politik zu folgen hat und nicht die Politik dem Recht.« Mit diesem Zitat hat Herbert Kickl im Österreichischen Nationalrat gezeigt, dass er die Sätze der ganz Großen stets parat hat. Er zitierte nämlich sich selbst. Ich glaube, dass er von seiner Aussage überzeugt ist, aber in dieser Kürze etwas vergessen hat: Für ihn und seine Vorgänger gilt und galt auch der Grundsatz, dass die Medien der Politik zu folgen haben. Die heutige ÖVP hat das der FPÖ abgeschaut und umgesetzt.
Heute bedroht die mehrheitlich instrumentalisierte Presse unsere Demokratie. Die Angst vor der Politik hat es hier besonders leicht, denn Österreich ist ein Land, in dem jeder davor gewarnt wird, seine Meinung zu sagen. Zu widersprechen ist in diesem Land eine Beleidigung, anstatt eine Bereicherung. In Österreich ortet man in klaren Standpunkten taktische, wenn nicht parteipolitische Absichten. Die Idee, dass der Einzelne sich – besonders in Zeiten der Erosion von Demokratie, Pluralismus und Aufklärung – seiner Haltung zu vergewissern hat, erscheint der Mehrheit provokant. Um so klarer sieht es der Denkende. In seinem Buch Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer, schrieb Karl-Markus Gauß:
Auch wenn ich oft mit ihnen zu kämpfen hatte, bin ich froh, meine Glossen, Kommentare, Kolumnen geschrieben zu haben […] Und nur indem ich sie schrieb, habe ich über das, worüber ich schrieb, jene Klarheit gewonnen, die durch bloßes Nachdenken zu erreichen mir nicht gegeben ist.
Im Mai dieses Jahres wird Karl-Markus Gauß siebzig Jahre alt. Er wird sich – hoffentlich – einen Dreck darum scheren, wie man seine Kommentare, seine Aufsätze, seine geschriebenen und seine ungeschriebenen Bücher einordnet. Auf jeder Ebene ist er Dialektiker und hat im Sinne des Musilschen Möglichkeitssinns auch die von der Wirklichkeit geweckten Möglichkeiten politisch und ästhetisch gelten lassen und beschworen. So schreibt er in oben genanntem Buch:
Das ungeschriebene Buch trägt den Arbeitstitel »Alle meine Bücher, die ich nicht mehr schreiben werde«, was immerhin zweierlei festhält: dass ich nicht mehr dazu kommen werde, sie zu schreiben, und dass ich sie trotzdem für meine Bücher halte. Sie haben den gleichen Einfluss auf mich wie jene, die ich fertiggestellt und veröffentlicht habe, denn jeder von uns ist auch der Mensch, der nicht aus ihm geworden ist, und was ein Autor zu schreiben unterlässt, das charakterisiert ihn nicht weniger als das, was zu schreiben er sich genehmigt hat.
Eine Sache anders zu denken, das ist auch für die Idee der Demokratie unerlässlich. Das Anders-Denken zuzulassen ist Demokratie, und damit ist klar, dass Politik dem Denken folgen muss und nicht umgekehrt, wie es Autokraten oder angehende Autokraten gerne hätten. Auf Seite 5 der Süddeutschen Zeitung von Sa/So 23./24. März schreibt Gauß in seiner letzten Kolumne:
Robert Musil hat im »Mann ohne Eigenschaften« über den »Möglichkeitssinn« gegrübelt […] Solchen Möglichkeitssinn muss Putin als lebensbedrohlich empfinden: für sich selbst, denn ein Despot kann nicht in Rente gehen, sondern muss, um zu überleben, innere Feinde eliminieren und äußere Feinde finden, die zu bekämpfen sein Daseinsrecht bedeutet. Und lebensbedrohlich für das Reich, das er mit sich selbst identifiziert und das anders nicht einmal gedacht, erträumt werden darf.
Wir werden Karl-Markus Gauß’ Kolumne vermissen. Aber wie es seiner Weisheit entspricht, verabschiedet er sich unsentimental und aus dem schier unglaublichen Universum seiner Belesenheit schöpfend mit zwei Zeilen des Rebellen und Dichters Ferdinand Sauter:
Deshalb, Wanderer, zieh doch weiter,
Denn Verwesung stimmt nicht heiter.
Titelbild: ROBERT JAEGER / APA / picturedesk.com