Finanzmärkte oder Wirtschaftspolitik? Diese Machtfrage ist scheinbar leider längst entschieden: Anonyme Finanzmärkte und deren Begehrlichkeiten sind zum Fokus der Geld- und Fiskalpolitik geworden.
Von Kurt Bayer
Nicht nur die wichtigen internationalen Wirtschaftsblätter wie “Financial Times”, die “Neue Zürcher Zeitung” oder “Il Sole 24 ore” berichten primär über Geschehnisse auf den „Märkten“, deren Interessen sich das Wohlergehen der Bürger:innen, die Realwirtschaft sowie die Unternehmen unterzuordnen haben. Auch Ökonom:innen teilen diese Sicht.
Das Beispiel des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes
Jüngstes Beispiel dafür sind Aussagen auf einer Diskussionsveranstaltung an der Wirtschaftsuniversität Wien am 13. März 2024, bei der die italienische Ökonomin Cinzia Alcidi sehr kompetent über die Eigenheiten des nunmehr wieder in Gang gesetzten europäischen „Stabilitäts- und Wachstumspaktes“ (SWP) berichtete. Dieser war angesichts der Corona-Krise ausgesetzt worden.
Zum Verständnis: Der SWP ist das zentrale wirtschaftspolitische Instrument innerhalb der Eurozone. Er koordiniert und regelt – als Gegenstück zur zentralisierten Geldpolitik in der Europäischen Zentralbank – die Budgetpolitk der Mitgliedstaaten. Sein Kernstück sind die sogenannten Maastricht-Kriterien: Das jährliche Haushaltsdefizit eines Mitgliedstaates darf nicht mehr als 3 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen, die Schuldenquote nicht mehr als 60 Prozent des BIP. Bei Nichteinhaltung drohen Sanktionen. Der SWP hat seit Einführung des Euro 1999 zu einer grundlegend restriktiven Wirtschaftspolitik geführt und den staatlichen Spielraum für eine aktive Fiskalpolitik und höhere öffentliche Investitionen drastisch eingeschränkt. Das Resultat war ein um etwa 10 Prozentpunkte niedrigeres Wirtschaftswachstum als in den USA. Im Zuge der Corona- Pandemie wurde der SWP richtigerweise ausgesetzt. Die derzeit diskutierte Neufassung gibt den einzelnen Mitgliedstaaten zwar mehr Mitsprache bei der Formulierung ihrer mittelfristigen Budgetpolitik und rückt stärker die langfristige Tragfähigkeit der Staatsschulden als das Budgetdefizit in den Mittelpunkt. Sie wurde aber keineswegs, wie versprochen „einfacher, transparenter und effektiver“.
„Die Märkte beurteilen“
Was hat das mit den Finanzmärkten zu tun? Bei genannter WU-Veranstaltung gab es nach dem Vortrag eine Panel-Diskussion, die von WIFO-Chef Gabriel Felbermayr moderiert wurde. Teilnehmer:innen waren die Direktorin für Wirtschaftspolitik der Österreichischen Nationalbank (OeNB), Birgit Niesner, ein Vertreter der hiesigen EU-Mission und ein WIFO/WU-Angehöriger. Die OeNB-Direktorin brachte dabei einige relevante Kritik am neuen SWP vor, meinte jedoch abschließend: Inwieweit der neue SWP funktioniert, werden „die Märkte“ beurteilen. Diesem Fazit schloss sich der WIFO-Chef an.
Nun könnte man ja meinen, dass der Leiter des größten österreichischen Wirtschaftsforschungsinstituts ein zentrales wirtschaftspolitisches Instrument der EU mit ökonomischen oder polit-ökonomischen Begründungen beurteilt, und dass die OeNB-Vertreterin eine bankeigene Beurteilung wagt. Doch nein, es geht ihnen nicht darum, wie der neue SWP auf Wachstum, Beschäftigung und Investitionen in die Zukunft wirkt, sondern darum, wie die Finanzmärkte darauf reagieren werden. Das zeigt deutlich, dass die Hörigkeit den Finanzmärkten gegenüber längst eigene strategische Überlegungen übertönt.
Die Irrationalität der Finanzmärkte
Dabei hat sich die Irrationalität der Finanzmärkte erst kürzlich wieder mehrfach bewiesen: etwa durch den nicht erklärbaren Höhenflug des amerikanischen Börsenkurses, der weit von den realen Entwicklungen (nach oben) abweicht, durch Bankenzusammenbrüche, durch den horrenden Kursgipfel der nicht werthaltigen Krypto“währung“ Bitcoin von 70.000 Dollar oder durch die Verurteilung des Krypto-Jongleurs Sam Bankman-Fried.
Diesen “Märkten” die Steuerung der Wirtschaft anzuvertrauen, ist fahrlässig. Und es ist kein gutes Zeichen, wenn die Beurteilung dieser „Märkte“ auch von den an sich dazu Berufenen benutzt wird, um sich eigene Analysen für eine Beurteilung der europäischen Wirtschaftspolitik zu ersparen.
Titelbild: Sarah Goldschmitt/Attac