Samstag, Juli 27, 2024

EU-Wahlen: Zurück in die Vergangenheit?

Was bei den Juni-Wahlen zum Europaparlament wirklich am Spiel steht.

Kaum mehr als ein Monat, dann sind schon die „Europawahlen“, also die Wahlen zum Europäischen Parlament. Aber die Aufmerksamkeit hält sich in Grenzen. Wenn überhaupt, dann werden die Wahlen unter innenpolitischen Gesichtspunkten wahrgenommen: Wie wird die FPÖ abschneiden, landet sie wieder einmal weit unter den Umfragen? Kann die SPÖ gar Erster werden? Droht der ÖVP ein ganz arges Debakel? Können die Grünen vielleicht sogar trotz Regierungsmalus das gute Ergebnis vom letzten Mal halten?

Europapolitik dagegen interessiert kaum jemanden, sie spielt gar keine Rolle, und wenn die Kandidaten dazu befragt werden, geben sie irgendwelche Phrasen als Auskunft.

Nicht, dass bei vergangenen EU-Wahlen leidenschaftlich um Grundsätze oder Details der Europapolitik debattiert worden wäre – aber so krass abwesend war Europa bei Europawahlen trotzdem selten. Vor einem Jahrzehnt gab es die Finanz- und Eurokrise und dann die harte Austeritätspolitik, und über deren Für und Wider wurde doch auch in einer breiteren Öffentlichkeit debattiert. Große Parteifamilien gingen mit bekannten Europa-Spitzenkandidaten ins Rennen, Jean-Claude Juncker etwa, oder der Sozialdemokrat Martin Schulz, auch die grüne Ikone Daniel Cohn-Bendit war einmal kontinentaler Spitzenmann.

Und heute: Auch ja, die Christdemokraten haben Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aufgestellt, die Sozialdemokraten haben Kommissar Nicolas Schmit als Frontmann. Der ist ein famoser Kommissar, aber bekannt ist er bis dato nur Feinspitzen und Polit-Nerds. Worum es so in etwa geht bei dieser Wahl: Hmm, niemand wüsste da Genaueres zu sagen, außer dass man die Rechtsextremisten möglichst klein halten will.

Eine ambitionierte EU-Investitionspolitik

Gelegentlich hört man von Engagierten der verschiedenen demokratischen Linksparteien – Sozialdemokraten, Linke, Grüne – vielleicht noch, dass es wieder einmal gegen das „Europa der Konzerne“ oder das „neoliberale Europa“ geht. Das ist einfach, denn die Jargonformeln hat man quasi auf der Festplatte. Das sagt man seit 25 Jahren so, das wird ja auch diesmal nicht falsch sein. Was so genau in der letzten Zeit in der Europäischen Union abgelaufen ist, damit muss man sich ja nicht extra beschäftigen.

Doch es wäre gar nicht so schlecht, wenn man das täte. Dann würde schnell auch klarer, was genau bei diesen Wahlen auf dem Spiel steht.

Denn die Europäischen Institutionen – was ja immer ein Wechselspiel von Kommission, EU-Parlament, Europäischen Rat und damit nationaler Regierungen ist – haben in den vergangenen Jahren doch einige neue Akzente gesetzt. Es wurde in bemerkenswertem Maße progressive Politik gemacht. Simpel gesagt: Die war sehr viel „linker“ als in den Jahren und Jahrzehnten zuvor.

Nur gemerkt hat das kaum jemand, denn – siehe oben – wer beschäftigt sich schon genauer damit…?

Auf die Covid-Krise und die daraus folgenden ökonomischen Risiken hat man mit einem Programm aus dem keynesianischen Textbuch reagiert: dem Europäischen „Wiederaufbaufonds“. Erstmals hat die EU als Gemeinschaft Kredite auf den Finanzmärkten aufgenommen, um die Wirtschaft und die Konjunktur zu stützen, vor allem der besonders betroffenen Staaten, wie etwa Italien. Immerhin 700 Milliarden Euro. Und wir erinnern uns, dass Sebastian Kurz, damals noch Kanzler, das verhindern wollte. Aber auch Österreich bekam Mittel, die meist direkt in die ökosoziale Transformation gesteckt wurden, in die Energiewende, und sogar ins Klimaticket für die Öffis.

Brüssel: Mindestlöhne rauf!

Bestärkte früher die EU-Politik neoliberale Dumpingpolitik und Lohnreduktion, um die „Wettbewerbsfähigkeit“ zu erhöhen, ging es in den vergangenen Jahren merkbar in die andere Richtung.

Es wurde etwa die Mindestlohnrichtlinie verabschiedet, die Lohndumping und Niedriglohnsektoren bekämpfen soll. Sie ist ein Meilenstein, und sorgt sogar jetzt schon für steigende Mindestlöhne.

Die EU-Politik versucht jetzt auch de facto die Gewerkschaften zu stärken: 80 Prozent aller Beschäftigten sollen kollektivvertraglich geregelte und damit gut abgesicherte Jobs haben – so eine Richtlinie. Das ist eine Zielmarke, die für alle Mitgliedsstaaten verbindlich sein soll. Mitgliedsstaaten, die diesen Wert nicht erreichen, müssen Pläne verabschieden, wie man sich verbessern will – und diese auch nach Brüssel zur Begutachtung schicken. Das macht schon Druck, auch wenn diese EU-„Gesetze“ nur Zielmarken formulieren – und keine Strafen vorsehen, wenn man sie nicht erreicht.

Brüssel: Gewerkschaften stärken!

Die Älteren von uns können sich noch erinnern: Früher hießen „Reformen“, dass Gewerkschaften geschwächt werden sollen – jetzt fordert Brüssel „Reformen“, die sie stärken. Das ist schon ein ziemlich krasser Paradigmenwechsel.

Und das sind nur drei Beispiele, man könnte auch aus der Klimapolitik ein paar anführen.

Alles in allem ging es also in den vergangenen Jahren in der EU-Politik erstmals signifikant in die richtige Richtung. Es ist nur niemandem besonders aufgefallen, weil sich die politischen Debatten in den nationalen Diskursräumen nicht die Bohne dafür interessieren.

Ein Fehler: Denn würde man all das registrieren, dann würde man auch bemerken, dass es bei dem Superwahljahr 2024 letztendlich darum geht, ob diese Politik fortgesetzt werden soll – oder ob es wieder in die andere Richtung geht.

Zurück zu Austeritätspolitik 2.0 ?

Wenn rechte und rechtskonservative Parteien bei den Europawahlen gewinnen, die Mitte-Links-Parteien aber geschwächt werden, dann steht auch all das auf dem Spiel. Und das selbe gilt natürlich auch für nationale Wahlen: Lösen rechte Regierungen in Mitgliedsstaaten eher linke Regierungen ab, dann blockieren die sofort progressive Politik in den EU-Institutionen. Das konnte man in den vergangenen Monaten gut sehen, nachdem etwa in Finnland und in Schweden Rechtsregierungen an die Macht gekommen sind. In Finnland wollen sie jetzt sogar schon das Streikrecht einschränken. Verbündete für eine Wirtschaftspolitik, die die Wohlfahrt der normalen Bürger stärkt und Löhne hebt, sind diese Regierungen nicht mehr. Dass in der Berliner Ampelregierung ausgerechnet der halsstarrige Neoliberale Christian Lindner das Finanzministerium besetzt, ist auch nicht gerade eine Hilfe – er versucht auf allen Ebenen alle sozialen und wirtschaftspolitischen Fortschritte zu torpedieren.

Es droht jetzt ein Kurswechsel zurück, zu dem „Europa der Konzerne“, bei dem es nur mehr um die Senkung von Lohnkosten geht und in der Budgetpolitik wieder ein harter Sparkurs herrscht, wie nach der Finanzkrise Anfang der 2010er Jahre. Die angespannte ökonomische Situation wird jetzt schon benützt, um überall für die Verbesserung der „Wettbewerbsfähigkeit“ der Industrieunternehmen zu trommeln, womit meist gemeint ist, dass man soziale und ökonomische Regelungen streichen soll, die „unnötige Kosten“ bedeuten.

Wir kennen das ja auch in Österreich mit den Vorstößen zur Verlängerung der Regelarbeitszeit auf 41 Stunden. Was nichts anderes heißt als: Mehr arbeiten für weniger Geld.

Um all das geht es auch bei den Europawahlen. Es wäre an der Zeit, ein bisschen intensiver darüber zu reden.

Autor

  • Robert Misik

    Robert Misik ist einer der schärfsten Beobachter einer Politik, die nach links schimpft und nach rechts abrutscht.

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