Milo Raus Festwochen-Revolution: In der Ära des Geschreis ist das Stille das wahre Laute.
Vergangenen Freitag stand ich am Wiener Rathausplatz und gab mir die Eröffnungsfeier der „Wiener Festwochen“, mit Fuzzmann, Pussy Riot, Bipolar-Feminin, mit Vodoo Jürgens, der fantastischen Bibiana Beglau, mit Zuschaltungen von Landbesetzern aus dem Amazonas, mit einer Videobotschaft von Elfriede Jelinek, mit buntem Fahnegeschwinge und dem herrlich fröhlichen Chor, gerade erst zusammengewürfelt, und schon scheinen sie alle gute Freunde zu sein. Und natürlich mit Milo Rau, dem neuen Intendanten der „Festwochen“.
Ich stand dabei im VIP-Bereich, bekam gratis Drinks und finde, wir sollten VIP-Zonen schleunigst abschaffen, wie es sich gehört in einer ordentlichen Revolution.
Für die hochverehrte Leserinnenschaft dieser Kolumne ist an dieser Stelle ein Disclaimer fällig: Ich bin mit Milo Rau gut befreundet, habe mit ihm in den letzten zehn Jahren an verschiedenen Projekten gearbeitet und bin bei einem der großen Festwochenprojekte auch als Dramaturg am Werken. Ich bin also nicht gänzlich unparteiisch, bestimmt nicht vollends unbefangen. Sie müssen also die folgenden Meinungen nicht teilen, wobei Sie ja auch in anderen Fällen dazu keineswegs behördlich verpflichtet sind.
Zauber der Utopie
Ich empfand dieses Spektakel mit dem wuchtigen Pathos und ein bisschen Revolutionskitsch, mit dieser „lasst uns doch die Welt verbessern“-Theatralik, mit den Gesten des Aufrührerischen, aber auch des Zärtlichen, so richtig gelungen. Es hatte einen Zauber des Utopischen, gerade weil es den Kitsch nicht scheute, gerade weil es nicht die vorauseilende Angst vor dem Weihevollen hatte, die uns so gerne prophylaktisch ins Ironische flüchten lässt.
Fuzzmann hatte der Kunstcommune, die da als „Freie Republik Wien“ ausgerufen wurde, sogar eine eigene Hymne komponiert. „Steht auf, steht auf, für Liebe und Versöhnung / steht auf steht auf für aller Menschen Glück / Auf jeder Festung sollen wieder Blumen blühn / und lasst den Frieden nicht zurück.“
Später sangen das alle, schon bisschen trunken, auch bei der After-Show-Party in den Rathaus-Arkaden. Und nächsten Tag im Volkstheater. Achtung, große Ohrwurm-Gefahr. Eine linke Hymne von 2024, damit wir nicht immer „Die Arbeiter von Wien“ oder irgendwas von Ton Steine Scherben aus den Siebzigern singen müssen. Selbst der Musikkritiker der „Presse“ nannte die Hymne „gegen jede Logik geglückt“.
Wenn ich „Zauber des Utopischen“ sage, dann meine ich damit: Hier blitzte ein Schwung und eine Freude auf, das Traumbild einer Welt der Freien und Gleichen und der Brüderlichkeit und der Schwesterlichkeit. Bei aller Wunschbildhaftigkeit, die so etwas hat, über die manche gewohnheitsmäßig zynisch die Nase rümpfen, so hat es doch auch eine Vehemenz, von der wir gar nicht genug bekommen können. Heute herrscht viel zu oft depressive Verstockung, sogar Weltverbesserungsromantiker sind üblicherweise in der Stimmung, dass man eigentlich nichts anderes tun kann, als „das Schlimmste zu verhindern“, und einstige Reformparteien werben letztendlich implizit mit nichts anderem als der Botschaft „Wählt uns, mit uns wird es langsamer schlechter“. Da ist jede Luke gut, durch die man ein wenig vom Wirklichen auf das Mögliche schielen kann, auf die Aussichten einer ganz anderen Ordnung und Ära. „Wolf und Lamm werden friedlich zusammen weiden“, heißt es in der Bibel. Besser man geht mal wieder aufs Ganze statt der dauernden halben Sachen. Ich glaube ja nicht, dass wir heutzutage zu viele Traumbilder malen, sondern eher zu wenig.
Kunst, die relevant ist – nicht Agitprop
Manchmal ist von „politischer Kunst“ die Rede, was nicht immer das gleiche ist wie Kunst mit politischen Wirkungen. Auch völlig hermetische Kunst, Sprachspiele, das Umkreisen von Innerlichkeiten, entfaltet Wirkungen. Manchmal wirkt Kunst aber auch viel intensiver auf Gesellschaften ein. In Österreich erinnern wir uns an den Wiener Aktionismus, und manche bekommen auch nostalgische Erinnerungen an die Peymann-Ära und deren Vibes. Damals reichte schon ein Stück von Thomas Bernhard wie „Heldenplatz“, das einfach die hiesigen Realitäten von Verdrängung und Lebenslügen aufs Korn nahm, um einen regelrechten Skandal auszulösen. Wütende Proteste beherrschten wochenlang die Schlagzeilen, tägliche Leitartikel und damit auch eine heftige gesellschaftliche Debatte. Inszenierungen wurden als „provokant“ empfunden, und die Provozierten inszenierten dann das viel größere Stück, das nicht auf den Brettern des Theaterbodens aufgeführt wurde, sondern in der Agora der ganzen Republik. Sie erledigten die Sache des Provokateurs und begriffen es nicht einmal.
Diese „Skandalstrategie“ funktioniert heute natürlich nicht mehr, sie ist ausgelutscht wie eine lange gepresste Zitrone. Erregungen wie diese (oder später die rund um Christoph Schlingensief) sind heute selten, weil sich selbst die letzten Spießer damit angefreundet haben, dass in der Kunst die bittersten Wahrheiten und die schrägsten Thesen ihren Platz haben. Heute kann man damit höchstens Laura Sachslehner ärgern und dafür sind andererseits Subventionsgelder auch zu schade. Das Spiel mit dem Skandal funktioniert daher nicht mehr, und das ist irgendwie auch gut so, weil es zu einem billigen Spiel werden kann („Ich provoziere einen Skandal und schon bin ich ein Star, stilisiere mich als Rebell und werde auch noch berühmt und reich damit“). Zugleich fragt sich die Kunst dann aber: Sind wir noch relevant? Wie wirkt man hinein in die Gesellschaft?
Milo Rau hat die „Festwochen“, noch bevor sie eröffnet waren, in die Diskussion zurück gebracht. Mit Inszenierungen und Programmpunkten, die debattiert wurden, obwohl noch niemand etwas über sie wusste, mit seiner kommunikativen Art, mit Talks, mit Fernsehauftritten, mit Radiointerviews. Unlängst war ich in einer Kleinstadt in Oberösterreich und alle wussten, wer Milo Rau ist und dass da ein paar spannende Programmpunkte zu erwarten seien. Bemerkenswert: der letzte Intendant, dessen Name den Leuten abseits der Tempel der Eingeweihten spontan eingefallen ist, war wahrscheinlich Luc Bondy, und das ist auch schon Jahrzehnte her.
Die Pest der Dauerironie
Politische – das heißt also: gesellschaftlich irgendwie relevante Kunst, nicht unbedingt Politkunst im Sinne von plakativer Agitprophaftigkeit –, hat heute natürlich an sehr viel zu kiefeln: Etwa, dass man hinter das Wissen nicht mehr zurück kann, dass es eben „nur Kunst“ ist, womöglich das Provokative im Rahmen des Erlaubten also, auf dem Feld, in dem noch das Abwegigste toleriert wird. Die ironische Brechung und das selbstironische Augenzwinkern sind auch aus diesem Grund immer dabei.
Ohnehin ist nichts ohne Ambiguitäten, wie etwa, dass der Begriff der Revolution in einen Wohlfühlslogan aus dem Ungefähren verwandelt wird, obwohl sie ja eigentlich eine ernste Sache ist. Mit dem Feuer ist leicht spielen, solange es nur ein Bühneneffekt bleibt. Echte Revolutionen, da bleiben schnell mal rauchende Ruinen zurück, während Blutbäche ins Rinnsal fließen.
Und zugleich muss ein Festival wie die „Wiener Festwochen“ versuchen, einen Wind zu entfachen, durch die Stadt zu fegen und nicht nur Kunstreligion für die fünftausend immergleichen Hochkulturhabitues zu sein.
Milo Rau „mischt die Stadt auf“, formulierte der „Falter“, wohingegen der „Kurier“, der in den Wochen davor in bester kulturkonservativer Tradition seine erwartbaren Angriffe ritt, nunmehr sogar von der anderen Seite kritisiert: Es sei fürs erste nur ein „Feuerchen“ geworden, also nicht einmal radikal genug.
Wind entfachen, die Stadt aufmischen
Man kann das so sehen und wahrscheinlich hat der Kommentator damit sogar in gewissem Sinne recht. Vielleicht muss man versuchen, noch mehr weh zu tun, an Punkte zu kommen, wo man richtige Schockmomente produziert. Wenngleich wir auch voraussagen können, dass es dann auch nicht recht wäre.
Was man tut, es ist sowieso auf irgendeine Weise falsch.
Was zu tun ist: Einfach Dinge hinstellen, die irgendetwas auslösen und auf Pathologien unserer Zeit reagieren. Eine ist eben die depressive Verstockung, auf die man mit dem Zauber des Utopischen, also der Ausstellung von ein paar Funken an Hoffnung reagieren muss. Eine andere Pathologie ist das Geschrei und die Gereiztheit, die Polarisierung und die Vertrottelheit der Diskurse. Theatrale und andere Formen zu entwickeln, die „Einübungen ins Zuhören“ sind, könnten Reaktionen darauf sein.
Gemäß der Maxime: In der Ära des Geschreis ist das Stille das wahre Laute.
Oder, wie Milo Rau formulierte: „Niemand hat die ganze Wahrheit, aber jeder ein Stück von ihr.“ Weshalb das eine und auch das Gegenteil wahr sein kann. So wie Antigone und Kreon zugleich recht haben. Und beide gehören gehört und keiner gecancelt, wie das heute schlechte Mode ist.
In der Zeit der Radikalisierung ist der Versöhner die größte Provokation. „Ich weiß sehr wohl, wie widersprüchlich man sein muss, um wirklich konsequent zu sein“, formulierte Milo Rau einmal. Und an anderer Stelle: „Als einzige Triggerwarnung schlage ich deshalb vor: Das ist Kunst, es wird verwirrend.“
Jetzt sagt er: „Wien wird brennen. Es sind die Flammen der Liebe der Versöhnung, des Aufruhrs und der Schönheit.“
Mit weniger sollten wir uns auch nicht zufrieden geben.
Titelbild: Miriam Moné