Das stark umkämpfte EU-Renaturierungsgesetz, das eine verpflichtende Verbesserung der Biodiversität vorschreibt, könnte doch noch kommen. Nach einer SPÖ-Kursänderung wäre der Weg für Leonore Gewessler (Grüne) frei, dem Gesetz zuzustimmen. Die ÖVP schäumt.
Am Freitag wurde das EU-Lieferkettengesetz entgegen großer Widerstände auf der Zielgeraden endgültig beschlossen. Das Gesetz, das Sorgfaltspflichten für Unternehmen im menschen- und umweltrechtlichen Bereich entlang ihrer Wertschöpfungsketten vorsieht, wurde letztlich entgegen dem Willen Österreichs beschlossen. Denn die ÖVP in Person von Wirtschaftsminister Martin Kocher stemmte sich gemeinsam mit Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung vehement gegen die neue Richtlinie, die sie als „Bürokratiemonster“ bezeichnete.
Ähnliches zeichnet sich beim stark umkämpften EU-Renaturierungsgesetz ab. Obwohl eigentlich bereits eine Einigung auf Ratsebene bestand, konnte das Gesetz im Mai 2024 nicht beschlossen werden, weil die ungarische Regierung unter Viktor Orbán doch noch umschwenkte und sich gegen das Gesetz aussprach.
Österreich Zünglein an der Waage
Damit würde ein Umschwenken von Österreich ausreichen, um das EU-Renaturierungsgesetz beschlussfähig zu machen. Das EU-Parlament hatte am 27. Februar 2024 bereits zugestimmt. Nur der Rat der Europäischen Union, in diesem Fall die Umweltminister, müssten noch zustimmen.
Als Umweltministerin ist Leonore Gewessler (Grüne) für das Abkommen zuständig. Diese signalisierte bereits mehrfach ihren Willen, das Gesetz zu beschließen. Bisher scheiterte sie aber an der Blockadehaltung der Bundesländer. Alle neun Bundesländer hatten sich bereits 2022 in einem gemeinsamen Beschluss gegen das Renaturierungsgesetz ausgesprochen. Da dieser Entschluss der Länder für Gewessler bindend ist, waren ihr auf EU-Ebene bisher die Hände gebunden.
Hick-Hack mit SPÖ
In Österreich wird rund um das Gesetz viel politisches Kleingeld gewechselt. Dabei schrecken Parteien auch nicht vor Unwahrheiten zurück. Das zeigte sich beispielsweise Anfang Mai 2024, als der EU-Spitzenkandidat der SPÖ, Andreas Schieder, Gewessler vorwarf, dem Gesetz nicht zugestimmt zu haben. Das war zwar richtig. Die Zustimmung konnte sie jedoch aufgrund der Blockadehaltung der Bundesländer nicht geben und enthielt sich deshalb. Die Grünen spielten den Ball an die SPÖ zurück und warfen den drei SPÖ-geführten Bundesländern Wien, Kärnten und Burgenland vor, für die Ablehnung des Gesetztes mitverantwortlich zu sein.
Der Chef der Wiener Grünen, Peter Kraus, forderte Wiens Bürgermeister Michael Ludwig daraufhin auf, den Beschluss der Bundesländer gegen das Renaturierungsgesetz aufzukündigen. Er allein könnte dafür sorgen, indem er ein Veto gegen den Beschluss einlegte.
SPÖ bringt Bewegung in die Sache
Die Kritik der Grünen an den SPÖ-Ländern dürfte Wirkung gezeigt haben. Zuletzt änderten Wien und Kärnten ihre Haltung zum EU-Gesetz. Damit könnte die Länderblockade fallen. Puls24 liegt ein Brief von Ludwig an Gewessler vor. Darin heißt es:
„Aufgrund der Entwicklungen auf europäischer Ebene (Trilog) wurden die berechtigten Bedenken der Länder zur Verordnung der Europäischen Union über die Wiederherstellung der Natur weitgehend ausgeräumt. Drei Punkte bleiben für uns wesentlich:
- Sicherstellung der Finanzierung (insbesondere durch den Bund)
- Sicherstellung einer einheitlichen Auslegung
- Sicherstellung der Ernährungssicherheit durch ausreichende wirtschaftliche Produktionsflächen
Bei Gewährleistung dieser Bedingungen bin ich für die Zustimmung zum Vorschlag für eine Verordnung der Europäischen Union über die Wiederherstellung der Natur.“
Auch Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser (SPÖ) zeigte Bereitschaft, seine Ablehnung der EU-Verordnung aufzulockern.
ÖVP nervös
Die ÖVP reagierte auf den angekündigten SPÖ-Schwenk mit zunehmender Nervosität, hatte sie doch monatelang gegen das Renaturierungsgesetz kampagnisiert. Der sonst stille Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig (ÖVP) wollte sich ab Donnerstag auch in der Zuständigkeit für die Verordnung sehen. Bundeskanzler Nehammer wiederholte die ÖVP-Rhetorik zum Lieferkettegesetz und sah in der Verordnung ein „dramatisches Beispiel für den Überregulierungswahn in Brüssel“.
Umweltministerin Gewessler wollte sich von der ÖVP nicht in die Suppe spucken lassen: „Wenn Landwirtschaftsminister Totschnig in Brüssel ohne mein Einvernehmen bei der Landwirtschaftspolitik, bei der gemeinsamen Agrarpolitik die Umweltschutzstandards abschwächen kann, dann muss das ja wohl umgekehrt auch möglich sein“, betonte sie ihre alleinige Zuständigkeit für das Gesetz auf EU-Ebene.
Die nächste Tagung des EU-Umweltrates findet am 17. Juni in Luxemburg statt.
Was ist das Renaturierungsgesetz?
Das EU-Renaturierungsgesetz sieht vor, Ökosysteme in schlechtem Zustand wieder gesünder zu machen. In Europa und in Österreich betrifft das in etwa 80 Prozent aller natürlichen Lebensräume. Unter anderem sollen dazu trockengelegte Moore wiedervernässt, Wälder und Wiesen geschützt, Gewässer regeneriert und die Bodenversiegelung gebremst werden. Mindestens 20 Prozent der Land- und Meeresflächen sollen wiederhergestellt werden. Laut EU-Kommission, die das Gesetz erarbeitete, brächte jeder investierte Euro in die EU-Verordnung acht Euro Gewinn.
Die ÖVP warnte in den vergangenen Wochen vor einer Enteignung von Landwirten durch das Renaturierungsgesetz und die damit einhergehende Bedrohung der Ernährungssicherheit.
Für WWF sind das Fake-News: „Verpflichtende Stilllegungen sind in der Verordnung nicht vorgesehen. Das Argument der Enteignung ist also ein reines Märchen.“
In einer von WWF in Auftrag gegebenen market-Umfrage sprachen sich im Jänner 2024 rund 75 Prozent der Österreicher für “verbindliche Ziele” für eine Wiederherstellung der Natur aus.
Laut Rafaela Schinegger von der Universität für Bodenkultur in Wien stellte Landwirtschaftsminister Totschnig im November 2023 noch klar: „dass die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln in der vollen Produktpalette und Vielfalt sichergestellt ist“. Die Ernährungssicherheit sei also nicht in Gefahr.
Die Wissenschaftlerin unterstreicht die immense Bedeutung der EU-Verordnung für eine gesunde Umwelt: „Nur 14 Prozent der österreichischen Flüsse und Bäche sind ökologisch intakt.“ Das Gesetz wäre ein Meilenstein für die Rettung der europäischen Biodiversität, die zuletzt auch für eine funktionierende Landwirtschaft unverzichtbar sei.
Titelbild: HELMUT FOHRINGER / APA / picturedesk.com