Der Hauptgewinner der Verwirrung rund um die Affäre „Schilling“ heißt Harald Vilimsky. Der Streit, ob Lügen einer Politikerin Privatsache sind, nützt der ÖVP.
Ich habe selten so viel Verwirrung erlebt wie in Fall „Schilling“. Die einzige, die davon nicht betroffen scheint, ist die Betroffene selbst. Lena Schilling zeigt, dass sie vieles von dem, was man in der Politik „das Handwerk“ nennt, gelernt hat. Wo andere wackeln, bleibt sie unbeirrt: „Es geht um das Klima und nicht um Privates!“ Was das Klima betrifft, hat Schilling recht.
Der Fall besteht inzwischen aus vier Fällen: dem Anlassfall „Schilling“, dem Fall „Verwirrung“, dem Fall „FPÖ“ und dem Fall „Grüne“.
Der Fall „Schilling“
Lena Schilling nimmt es nicht mit jeder Wahrheit genau. Für das Mandat, das sie anstrebt, ist das keine Bagatelle. Wenn Journalistinnen erfahren, dass eine Spitzenkandidatin so in ihr Netz aus Lügen verstrickt ist, dass ihr die eigene Partei eine Anwältin für eine gerichtlichen Unterlassungsvergleich bezahlen muss, dann ist das berichtenswert.
Dazu steht Schilling im Verdacht, andere Personen verleumdet und dadurch in existenzielle Schwierigkeiten gebracht zu haben. Einer der Betroffenen ist Journalist und hätte fast seinen Job verloren. Wer das verschweigt, hilft, Wählerinnen und Wähler über den Zustand einer Kandidatin und ihrer Partei zu täuschen.
Hier kommt der erste falsche Einwand: „Aber sie ist ja erst 23“. Die Gegenfrage ist einfach: Bis zu welchem Alter ist Verleumdung „privat“ und ab wann nicht mehr? Bis zur Auseinandersetzung um Schilling gab es eine einzige Altersgrenze, die in Fällen wie diesem schützt: die Strafunmündigkeit. Lena Schilling ist kein kleines Patscherl, dem man aus dem Schlamassel helfen muss. Sie ist eine junge, außerordentlich talentierte Frau mit mehr Medienerfahrung als die meisten Politiker der Partei, die sie jetzt vorführt. Schilling ist in der Lage, Verantwortung zu tragen.
Die Woke-Doppelmoral, die hier durchschimmert, verstellt den Blick auf eines: Wer wie Schilling einen Mann fälschlich eines Gewaltverbrechens an seiner Frau und einen Journalisten fälschlich einer sexuellen Belästigung bezichtigt, hat das verspielt, was für ein politisches Mandat unabdingbar ist: die persönliche Glaubwürdigkeit.
Einbruch in die Privatsphäre?
Der Kern der Vorwürfe, die im „Standard“ erhoben wurden, wird wohl nicht mehr ernsthaft bestritten. Stattdessen wird eine andere Debatte eröffnet: was bei Politikern an „Privatem“ vor Öffentlichkeit geschützt werden müsse. Das ist eine Frage, bei deren Beantwortung ein Fall aus einer anderen politischen Welt hilft.
Im September 2023 berichteten „Kleine Zeitung“ und „ORF“ über einen FPÖ-Landtagsabgeordneten, der betrunken einen Unfall verursacht und dann Fahrerflucht begangen hatte. Sein Name wurde genannt, der Abgeordnete entschuldigte sich.
Die betrunkene Fahrt fand zweifellos im „Privatleben“ statt. Trotzdem ist zurecht darüber berichtet worden, weil der Vorfall etwas Wichtiges über die Person mitteilt. Der 49-jährige FPÖ-Abgeordnete nahm die Sicherheit von Menschen nicht ausreichend ernst. Das scheint auch ein Problem der 23-jährigen Kandidatin zu sein.
Flucht im E-Auto
Manchmal sieht man Dinge besser, wenn man sie auf den Kopf stellt. Also stellen wir uns vor: Die junge Kandidatin flüchtet am Steuer ihres E-Autos und der 49-jährige Freiheitliche verbreitet Bösartiges über ein befreundetes Ehepaar und dazu noch über einen Journalisten.
Wahrscheinlich hätte uns jemand den entscheidenden Unterschied erklärt: Der verleumderische Angriff eines Politikers auf einen Journalisten sei keine private Angelegenheit – im Gegensatz zu der dummen Sache mit dem E-Auto. Man kann es so sehen.
Der ORF Steiermark hatte jedenfalls recht, als er berichtete: „Am Steuer saß der FPÖ-Landtagsabgeordnete Herbert Kober“, dessen Anwalt „betont, dass der Vorfall in keinem Zusammenhang mit der politischen Tätigkeit seines Mandanten stehe“.
Kobers Alko-Fahrt war privat, wie fast alles, was man Schilling vorwirft. In diesen Fällen geht es nicht um „privat“ oder „öffentlich“. Es geht um Antworten auf die Frage, was am Verhalten von Politikern zur Beurteilung ihrer Eignung für öffentliche Ämter relevant ist. Genau aus diesem Grund sind Abgeordnete „öffentliche Personen“. Ob sie betrunken Unfälle verursachen und dann flüchten; ob sie privat dubiose Geschäfte machen; oder ob sie lügen, dass sich die Bio-Balken biegen – die Veröffentlichung aus diesem Teil des „Privaten“ ist das Berufsrisiko öffentlicher Personen.
Verwirrung
Rund um Schilling haben sich jetzt zwei Lager gebildet. Die einen decken auf, die anderen zu. Die einen schieben Chats nach, die nur noch beweisen, dass Schilling seltsame Gespräche mit seltsamen Freunden und Freundinnen führte. Die anderen scheinen sich nicht zu überlegen, ob sie der „Schützt die Privatsphäre“-Propaganda von Karoline Edtstadler und ihrer ÖVP als Verstärker dienen.
Edtstadler will das Veröffentlichen „privater Chats“ gesetzlich verbieten lassen. „Huren der Reichen“, die „ihren Kanzler lieben“ und dem Parteifreund mit „Du bist Familie“ versichern „Kriegst eh alles was du willst“ – das kommt wieder, solange es Mobiltelefone und Amtsträger aus FPÖ und ÖVP gibt. Die Edtstadler-Lösung ist bestechend einfach: Was man nicht verhindern kann, das lässt man verbieten. Die Privatisierung der öffentlichen Person, die gerade an Schilling durchexerziert wird, liefert dafür neue Vorwände.
Aber wird Schilling und ihren Grünen nicht unrecht getan? Warum prügeln alle Schilling und lassen Vilimsky ungeschoren? Warum kann eine Partei, die vielleicht bald mehr Fußfesseln als Mandate hat, im Schatten der Schilling-Affäre fast ungestört den schäbigsten und verlogensten EU-Wahlkampf aller Zeiten führen?
Der Anstand
Wie Harald Vilimsky und Herbert Kickl hatte FPÖ-Abgeordneter Kober öffentlich weit weniger als Schilling zu befürchten. Wer regt sich heute noch auf, wenn ein Freiheitlicher etwas anstellt? Untreue, Kinderpornografie, Amtsmissbrauch, Diebstahl, Drogenhandel, Nötigung, Betrug, sexueller Missbrauch, Waffenhandel und ab und zu Fahrerflucht, da sind die politischen Delikte von Verhetzung bis Wiederbetätigung noch gar nicht dabei. Wenn ein Freiheitlicher kriminell wird, regt das kaum noch jemanden auf. Die große Zahl der Fälle hat zur Immunisierung durch Abstumpfung geführt.
Der Anstand ist zwar auf Abstand gegangen, trotzdem unterscheiden sich die Grünen auch bei ihren Affären von den Freiheitlichen. Der amateurhafte Umgang mit der Affäre „Schilling“ zeigt, dass man das professionelle Wegdrücken und Aussitzen noch nicht gelernt hat. Jetzt stehen zwei Wege offen: dorthin, wo es vor Schmutzkübeln und Silbersteins wimmelt oder dorthin, wo der Anstand schon etwas ratlos auf die Rückkehr seiner Grünen wartet.
Grüne
Sigi Maurer hat die Grünen an Schilling gekettet. Werner Kogler hat es wie immer zugelassen. Maurer und Kogler verjuxen gerade mehr als die Hälfte der Mandate ihrer Partei und überlassen den politischen Protest gegen eine schäbige Regierung kampflos einer Partei, die das politische Bindeglied zwischen AfD und ÖVP darstellt.
Jeden Tag zeigen neue Wetterkatastrophen, wie dringend wir glaubwürdige und handlungsfähige Grüne brauchen. Jeden Tag… Ja, ich höre schon auf. Vielleicht wird da wirklich nichts mehr draus. Dann wird es Zeit, sich einiges zu überlegen. Auch für den Anstand, weil irgendwo muss der ja hin.