Samstag, Juli 27, 2024

EU-Wahl: Blind am europäischen Auge

Bei der EU-Wahl am 9. Juni wählt man mit seiner Stimme nicht nur nationale Parteien und Abgeordnete, sondern auch europäische Fraktionen. Die wenigsten wissen über deren Standpunkte Bescheid.

„Nicolas Who?“ titelte das Politmagazin „Politico“ am 15. Jänner 2024. Die Anspielung auf den weitgehend unbekannten Kommissar für Arbeit und Soziale Rechte, Nicolas Schmit, Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten, ist symptomatisch für das Desinteresse an der europäischen Dimension des EU-Urnengangs. Dabei sind es vor allem die europäischen Fraktionen, die das politische Geschehen im EU-Parlament prägen.

Die einsame Anti-Atom-Insel

Dass politische Bekundungen in österreichischen TV-Duellen oftmals leere Worte sind, verrät ein Blick auf die politische Ausrichtung der europäischen Fraktionen. Diese sind den nationalen Parteien übergeordnet. So gehört etwa die ÖVP der Europäischen Volkspartei (EVP) unter der Führung von Ursula von der Leyen an. Die Sozialdemokraten sind im Bündnis S&D beheimatet, während die NEOS Teil der Fraktion „Renew“ sind.

Im März 2024 wurde offenkundig, dass nationale Parolen österreichischer Politiker in Europa nur wenig Gewicht haben. Bei der Abstimmung zum EVP-Manifest im rumänischen Bukarest ging es darum, Atomkraft als zukunftsträchtige Technologie für die Energiewende auszubauen und die baldige Schengen-Aufnahme Bulgariens und Rumäniens zu unterstützen. Die ÖVP wehrte sich gegen diese Punkte und enthielt sich der Stimme, was einer Ablehnung gleichkommt. Die „roten Linien“, die Nehammer im EVP-Programm ausmachte, wurden schlichtweg ohne die Stimmen der ÖVP beschlossen.

Vor einem ähnlichen Dilemma stehen Helmut Brandstätter und die NEOS. Denn die Fraktion „Renew“, der die NEOS angehören, wird von französischen Liberalen unter Schirmherrschaft Emmanuel Macrons dominiert. Frankreich ist das atomare Zentrum Europas – an eine Zurückdrängung der nuklearen Energie ist dort alsbald nicht zu denken.

NEOS-Kandidat Helmut Brandstätter ist sich bewusst, dass sein Atomkurs in Frankreich keine Anhänger hat

Das wird auch für FPÖ-Spitzenkandidat Harald Vilimsky ein Problem. Im TV-Duell mit Andreas Schieder (SPÖ), sagte dieser: „Man sieht’s in Frankreich, die bauen 40 neue Atomreaktoren, das will ich nicht haben.“ Dass in der FPÖ-Fraktion „Identität und Demokratie (ID)“ bald der französische Rassemblement National von Marine Le Pen den Ton angeben wird, erwähnte er nicht. Auch Le Pen will neue Atomkraftwerke bauen, wie sie noch 2022 bekundete.

Neutralität, NATO und Aufrüstung

Ein Balanceakt ist für viele Parteien beim Thema Sicherheit gefragt. Denn sowohl die Europäische Volkspartei, als auch die Fraktion der Sozialdemokraten sprechen sich für eine engere Kooperation der EU mit der NATO aus. Das gilt auch für EU-Staaten, die nicht selbst der NATO angehören – wie Österreich. Kein Wunder, dass sowohl Andreas Schieder als auch Reinhold Lopatka das Thema NATO im Wahlkampf gerne umschifften.

Eine gespaltene Persönlichkeit drängt sich auch bei den Grünen auf. Die Partei wird auf europäischer Ebene, ebenso wie die Europäische Volkspartei, von der deutschen Fraktion dominiert. Die Spitzenkandidatin der europäischen Grünen, die deutsche Terry Reintke, propagiert auf europäischer Ebene zwar die Abrüstung und stellt den Klimaschutz ins Zentrum des Wahlprogramms. Der Ex-Chef der deutschen Grünen, Robert Habeck, spricht sich in Deutschland hingegen für eine starke Aufrüstung Deutschlands und Europas aus. Ob mit einem solchem immensen Militärbudget eine grüne Zukunft Europas möglich ist, bleibt fraglich.

Asyl in Drittstaaten

Dass die ÖVP und besonders die FPÖ für die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten ist, ist kein Geheimnis. Dagegen ist neben Helmut Brandstätter von den NEOS und Lena Schilling von den Grünen auch SPÖ-Spitzenkandidat Andreas Schieder. Ob das auch für den europäischen Sozialdemokraten Nicolas Schmit gilt, ist allerdings nicht mehr so klar. In einem Interview am 29. Mai sagte der Luxemburger: „Wenn Externalisierung bedeutet, dass man manchmal, aber unter unserer Kontrolle, unter europäischer Kontrolle, Migrationsverfahren organisieren könnte, bevor Menschen in die Europäische Union kommen, dann könnte man das diskutieren.“ Das Ruanda-Modell der britischen Regierung, wonach Asylwerber für viel Geld nach Ruanda gebracht werden sollen, lehnt Schmit aber ab.  

Andreas Schieder sagt “Nein” zur Ausgliederung von Asylverfahren in Drittstaaten. Quelle: Puls24

Chaos bei rechten Fraktionen

Eine einheitliche Linie vermisst man bei den beiden rechten Fraktionen im EU-Parlament, der EKR und der ID, der auch die FPÖ angehört. Ob eine Zusammenarbeit der beiden Blöcke möglich ist, darf trotz immer wieder aufflackernder Annäherungsversuche bezweifelt werden. Zu stark sind die unterschiedlichen nationalen Interessenlagen der Parteien in den beiden Blöcken. Die rechten Fraktionen stimmen im Parlament am wenigsten geschlossen ab.

Zwar dürfte die Fraktion ID aufgrund eines starken Abschneidens in Frankreich einerseits gestärkt aus der EU-Wahl hervorgehen. Der kürzlich erfolgte Ausschluss der AfD aus der Fraktion, zeigt allerdings, dass eine gemeinsame europäische Politik der rechten Fraktionen noch immer in weiter Ferne schwebt.

Während die NEOS-Fraktion “Renew”, die europäischen Grünen und die SPÖ-Fraktion S&D eine Zusammenarbeit mit den rechten Fraktionen ausgeschlossen haben, zeigte sich die europäische Volkspartei offen für eine mögliche Kooperation mit der Giorgia Meloni-Fraktion EKR. Mit der FPÖ-Fraktion ID will niemand zusammenarbeiten.


Titelbild: GEORG HOCHMUTH / APA / picturedesk.com

Autor

  • Daniel Pilz

    Taucht gerne in komplexere Themengebiete ein und ist trotz Philosophiestudiums nicht im Elfenbeinturm stecken geblieben.

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