Sonntag, September 8, 2024

Das Märchen vom Nehammer-Kickl-Duell

Karls tapfere Helferlein: Es hat schon etwas Rührendes, wie Österreichs zärtliche Medienmacher den ÖVP-Chef hoch- und die SPÖ runter schreiben.

Legendär ist die Formel aus Friedrich Torbergs Tante Jolesch, „Gott bewahre uns vor allem, was noch ein Glück ist“. Gemessen an Prognosen und Untergangsphantasien ist der Ausgang der Europawahlen in Österreich noch ein solches „Glück“. Die Bäume der FPÖ wachsen nicht in den Himmel. Zum dritten Mal hintereinander haben die Meinungsforscher gezeigt, dass sie die FPÖ massiv überschätzen – nach Salzburg, Innsbruck, jetzt auch bei den EU-Wahlen. Vergesst künftig einfach diesen Datenunsinn!

Aber man soll auch nicht daran herumdeuteln: Die FPÖ ist stärkste Partei, wenngleich auch nur mit knapp über 25 Prozent. ÖVP und SPÖ kommen jeweils einen Wimpernschlag danach. Drei Parteien quasi gleichauf, nur durch zwei Prozentpunkte getrennt. Es ist faktisch Kopf-an-Kopf. Symbolisch unerfreulich, dass die SPÖ nur Platz drei erreicht hat.

Es wäre nicht Österreich, würde das rechtsgedrehte und mit den Herrschenden gutvernetzte Kommentariat in Österreich nicht gleich seine eigene Fake-Realität schaffen, die lautet: Es gibt jetzt einen Zweikampf zwischen unserem Nehammer von unserer ÖVP und dem Kickl, den wir insgeheim eh ganz gut finden, jedenfalls im Vergleich zu diesem Babler, den wir gar nicht gut finden, deswegen behaupten wir, seine SPÖ (die wir überhaupt nicht gut finden), sei jetzt blamabel abgestürzt.

Die SPÖ hat faktisch alle Medien im Land gegen sich, in einer Verbissenheit, die schon auch recht bemerkenswert ist.

Drei Parteien faktisch Kopf an Kopf

Es zeigt sich langsam als österreichische Eigenart, dass die postfaktische Fake-Welt hierzulande nicht mehr auf Telegram und anonyme X-Kanäle angewiesen ist. Die Auffassung, dass Fakten und Wirklichkeit nur soweit in Berichterstattung und Kommentierung einfließen, solange sie die gewünschte Manipulation nicht zu sehr stören, ist längst auch in den Boulevard, in einstmals noch einigermaßen seriöse Parteien, in die normale Zeitungswelt eingesickert. Es ist hierzulande schon noch einmal bemerkenswerter als anderswo: Man behauptet etwas Faktenwidriges, dann wird es von jemandem richtiggestellt, und dann behauptet man das Faktenwidrige einfach wieder. Vielleicht hat das mit der Theatertradition unserer Operettenrepublik zu tun, mit unserer literarischen Ader: Wenn man eine Geschichte liebgewonnen hat, wollen wir sie uns doch durch die Wirklichkeit nicht stören lassen.

Also: Wenn drei Parteien Kopf-an-Kopf liegen, dann ist es natürlich nicht ein Zweikampf, sondern ein Dreikampf.

Es ist alles offen

Kickl und die FPÖ haben es haarscharf auf Platz eins geschafft. Für Kickl spricht, dass durch Europa eine rechte Woge geht, und dass in vielen Ländern – in Österreich besonders stark – die Grundstimmung günstig für ihn ist: Unzufriedenheit mit Regierenden, eine „gegen-das-System“-Stimmung, Wutbewirtschaftung durch politische und mediale Empörungsunternehmer, Atmosphären der Frustration.

Gegen ihn spricht, dass er sein Potential weitgehend ausgereizt hat, dass die Selbstradikalisierung der FPÖ der letzten Jahre wohl auch viele abschreckt, die einige der Maximen der Freiheitlichen teilen. Vor der Wahl solcher Radikalinskis schreckt man dann doch zurück, und wohl erst recht, wenn es wirklich um den Kanzler geht und nicht bloß um wenig bedeutende EU-Parlaments-Mandate. Andererseits kann Kickl sich damit beruhigen, dass die FPÖ ihre Wähler für Europawahlen üblicherweise nicht so leicht zur Wahlteilnahme bewegen kann – dass also ihre Wähler auch diesmal überproportional daheim blieben. Ich glaube zwar nicht, dass das der Fall ist – aber es ist eine Möglichkeit, die man nicht ausschließen kann.

Die ÖVP und Karl Nehammer freuen sich wie Schaukelpferde, alleine des Umstandes wegen, dass sie nicht völlig vernichtet wurden und tatsächlich im Rennen um die Spitzenposition sind. Damit haben sie nicht gerechnet. Das gibt ihnen jetzt auch wieder etwas Selbstbewusstsein. Zugleich wissen wir, dass keine Partei ihre Wähler und Wählerinnen traditionell so gut zu EU-Wahlen bringt, wie die ÖVP, deswegen schnitt sie meist bei EU-Wahlen besser ab als bei Nationalratswahlen. Stellt man diesen Umstand in Rechnung, sollte die ÖVP eigentlich alarmiert sein und befürchten müssen, bei der Nationalratswahl gegenüber Sozialdemokraten und Freiheitlichen abzuschmieren. Andererseits kann sie hoffen, dass ihr der amtierende Kanzler als Spitzenkandidat – trotz dessen beschränkter Strahlkraft – noch so etwas wie den „Sicherheitsbonus“ einbringt. Der ist schon Kanzler, den kann man sich daher leichter als Kanzler vorstellen. Wer am Ende Angst vor zu viel Tohuwabohu hat, wählt vielleicht dann doch Nehammer.

Die Achillesferse der SPÖ

Für die SPÖ ist dritter mit zwei Prozent Rückstand natürlich viel besser als zweiter mit fünf Prozent Rückstand, wie es teilweise ja prognostiziert wurde, auch wenn die Kommentatoren und die Medienmogule das mit aller Kraft zu vernebeln suchen. Sie hat das stärkste Wachstumspotential. Teile der SPÖ-nahen Wählerschaft lassen sich traditionell zu EU-Wahlen schlecht mobilisieren. Hinzukommt, dass Leute bei EU-Wahlen häufiger für die Grünen, NEOS oder Kleinparteien stimmen, die bei Nationalratswahlen „strategisch“ dann eher wieder ein Kreuz bei der SPÖ machen. Außerdem: Ein Kanzlerduell zwischen Nehammer und Kickl kann es allein schon deshalb logischerweise nicht geben, da Kickl nicht Kanzler werden kann, wenn die ÖVP ihn nicht dazu macht. Ziemlich skurrile Ausgangsposition für ein angebliches Duell. Eine „Duellsituation“ – die sowieso nur eine Art performativer Akt ist, dessen reale Konsequenzen nur eintreten, wenn ausreichend viele Leute daran glauben – kann nur zwischen den Polen entstehen. So gesehen wäre die Ausgangsposition für die SPÖ geradezu perfekt und der sozialdemokratische Spitzenkandidat hätte die besten Voraussetzungen, auf Platz eins vorzustoßen, wären da nicht andererseits zwei Aspekte in diesem Für und Wider, die eher negativ ausschlagen. Erstens: die skandalös parteischädigenden (eigentlich: demokratieschädigenden) Aktivitäten in der SPÖ selbst, angefangen bei Hans-Peter Doskozil. Zweitens: Verbesserungswürdigkeit bei der politischen Botschaft. Natürlich krankte es bei den Europawahlen auch daran, dass es den Sozialdemokraten und den Linken in Europa generell eklatant an einer eigenen Story fehlte. Im Grunde war die Botschaft: Wählt uns, damit die Rechten gestoppt werden. Ist sonst etwas in Erinnerung?

Man muss sich nur die Plakatslogans zur EU-Wahl ansehen: „Europa fair gestalten“, plakatierte die SPÖ. Und: „Schluss mit den Steuerschlupflöchern“. In Deutschland: „Besonnen handeln. SPD wählen.“ Oder: „Frieden sichern. SPD wählen.“

Keine Favoriten mehr

Da kann man sich die ganze Plakatiererei gleich sparen und sollte erst einmal mit der Frage beginnen: Was ist es eigentlich, wofür wir gewählt werden wollen? Was ist es, was uns besonders ausmacht und wie lautet die eine Zeile, die jeder und jede versteht? Meine Vermutung: Wenn die SPÖ diese Frage beantworten kann, dann wird sie die Nationalratswahl am 29. Oktober gewinnen. Alles weitere muss sich dann gut darum herum gruppieren.

Das Ergebnis der EU-Wahlen ist also: Der Vorhang zu und alle Fragen offen. Es gibt keinen Favoriten mehr. Die FPÖ ist nicht mehr Favorit, die ÖVP schon gar nicht, und die SPÖ kann es schaffen, aber es gibt keine Garantie dafür. Jede der drei Parteien kann Nummer eins werden. Die Versuche der Medienoligarchen, Karl Nehammer in ein Duell mit Herbert Kickl hinein- und Andreas Babler herunterzuschreiben, sind so leicht durchschaubar, dass kein vernünftiger Mensch darauf hereinfallen sollte.


Titelbild: Miriam Moné

Autor

  • Robert Misik

    Robert Misik ist einer der schärfsten Beobachter einer Politik, die nach links schimpft und nach rechts abrutscht.

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