Wie sich die ÖVP radikalisiert hat und seither von der Radikalisierung der anderen redet. Dieser Abwehrmechanismus hat einen konkreten Hintergrund: Die Volkspartei hat es aufgegeben, den Mittelstand zu vertreten.
Am 26. Juni schreibt die Zeitung „Österreich“: Nehammer verurteilt erneut Russlands Angriffskrieg. Gestern habe ich das erste Mal eine MIR-Karte gesehen, jene Kreditkarte, die man statt einer Mastercard- oder VISA-Card bekommt, wenn man in Russland ein Konto eröffnet. Wie sieht sie aus? Sie ist auf der rechten Seite grün und trägt die Aufschrift MIR (Frieden). Die linke Seite ist gelb und darauf prangt das Logo der Raiffeisen-Bank.
Was auch immer die ÖVP von ihrem Billigsdorfer-Propheten Wolfgang Fellner verkünden lässt: Ihre Bigotterie in der Haltung zu Russland ist himmelschreiend. Die ÖVP ist längst so positioniert wie die FPÖ; sie versucht es nur durch Rhetorik und Propaganda zu verdecken. Sie hat sich radikalisiert.
Aufgabe des Mittelstands
Nicht anders ist es innenpolitisch. Wer 71 von 183 Sitzen im Parlament hat, muss in einer Koalition Kompromisse mit anderen Parteien schließen. Das gilt für alle und ist nichts anderes als eine Logik einer Demokratie mit Verhältniswahlrecht. Die ÖVP aber macht keine Kompromisse, auch nicht mit dem Koalitionspartner, wie man dieser Tage sieht. Täglich bringt sie eigene Umfragen und die Expertisen von Gefälligkeitsgutachtern wie Herrn Obwexer und bleibt stur bei ihrer Position. Wenn ihr Gesetzesvorschlag zur Handyauswertung mit den Stimmen der FPÖ angenommen wird, dann ist die Koalition mit der Kickl-FPÖ ohnehin bereits im Nationalrat tätig.
Hintergrund dieser Radikalisierung der ÖVP ist das Aufgeben der Vertretung des Mittelstands. Seit Sebastian Kurz ist das Parteilinie. Die Oberschicht der Reichsten braucht man als Spender, muss ihr allerdings dafür Milliarden an Subventionen zukommen lassen und massive Steuernachlässe gewähren. Die Unterschicht wird durch die Propaganda der angefütterten Medien weitgehend auf Linie gehalten. Bleibt die Mittelschicht, die dieses Land finanziell (als brave Steuerzahlende), aber auch moralisch und kulturell trägt. Die ÖVP hat kein Interesse mehr an ihr. Sie ist eine neo-faschistische Partei wie die FPÖ geworden und wird schon bald als Anti-EU-Partei (was rhetorisch ohnehin schon umgesetzt ist, siehe Renaturierungsgesetz) und als Pro-Putin-Partei auftreten.
An der Sprache erkennbar
Unterdessen spielt sich viel Gefährlicheres ab. In der großen Menge derer, die zumindest behaupten, Rechtsradikalismus abzulehnen, macht sich dessen Sprache und Gedankengut breit. Durch Exkulpationen, Abwehrmechanismen (wie die berühmte »Faschismuskeule«), durch das Unheil der Umfrage-Hörigkeit und durch die schiere Gewöhnung an die Sprache des Rechtsradikalismus, wird sein Gedankengut reingewaschen. In Zeiten, in denen Qualitätszeitungen das Wort »Ausländerfrage« verwenden, tägliches SPÖ- und KPÖ-Bashing betreiben und durch das regelmäßige, große Aufmachen der großen rechten Anführer nach Quoten und Verkaufszielen schielen, ist eines auf der Strecke geblieben: politische Grundsätze, die rechtsradikales Gedankengut kategorisch ablehnen. Doch Ideologie – und das ist Ideologie im besten Sinn – wird schlecht gemacht und abgelehnt. Der Abwehrmechanismus wird zur Neurose: Niemand, der heute die Worte »Faschismuskeule« oder »Nazi-Keule« verwendet, um FPÖ oder ÖVP vor Angriffen zu verteidigen, hätte im Austrofaschismus oder Nationalsozialismus seine Stimme gegen die Diktatur erhoben.
In einer Welt, die im rechten Terror geradezu versinkt, sagt der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer im Gespräch mit Klaus Webhofer in Ö1 am 15. Juni 2024: »Und wir erleben ja gerade, dass sich Links wie Rechts beginnt zu radikalisieren. Alte Konzepte, Marxismus wieder auf der linken Seite, wird plötzlich wieder zum Thema. Wir sehen, dass es Kommunisten gibt auf der politischen Bühne, die schon lange vergessen geglaubt waren. Auf der anderen Seite sehen wir eben, dass Rechts und Rechtsextrem plötzlich eine neue Dimension erreicht.«
So sind wir
Diese Gleichsetzung ist nicht nur selbst rechte Propaganda, sie ist auch völlig geschichtsvergessen und falsch. Wenn Nehammer von Radikalisierung spricht, meint er sich selbst. Genauso wie das »So sind wir nicht!« des Bundespräsidenten im Jahr 2019 nur eines bedeuten konnte: »So sind wir!« Der Beweis dafür: Anfang dieser Woche hat Sebastian Kurz zu einem »Businesstalk« geladen und dort verkündet, er hätte nach der Veröffentlichung des Ibiza-Videos die Koalition mit der FPÖ fortführen sollen. Also auch mit Minister Kickl. So sind wir! Kurz und Nehammer stimmen mit den Vorgangsweisen und Meinungen, die zwei FPÖ-Politiker in diesem unsäglichen Video aussprechen, völlig überein.
Der Marxisten-Sager ist rechte Demagogie. Andreas Babler ist ein lupenreiner Sozialdemokrat, der in der SPÖ wieder klassisch sozialdemokratische Themen zur Diskussion bringt, wie gerade jene bürgerlichen Medien es immer gefordert haben, die jetzt jeden Tag auf ihn hinhauen. Marxistisch ist da nichts. Und die KPÖ? Nehammer hat offensichtlich ein Problem damit, wenn sich eine Partei um Menschen, die Probleme mit Arbeit, Wohnen und Versorgung haben, kümmert und Teile ihres Gehalts spenden. Da ist die ÖVP wesentlich karitativer, wenn sie ihren Parteispendern staatliche Förderungen zukommen lässt, zu Steuererleichterungen verhilft und für alle ihre Bürgermeister und deren Saufkumpanen Versorgungsposten besorgt.
SPÖ im Double-Bind
Auch darin sind ÖVP und FPÖ gleich. Herbert Kickl hat sich seit er Minister einer Koalition mit der ÖVP war, nicht verändert. Auch er hat damals schon ganz bewusst die Sprache des Nationalsozialismus verwendet, wenn er zum Beispiel sagte, man solle Flüchtlinge »konzentriert an einem Ort halten«. Es ist das alte Jörg-Haider-Spiel, bewusst den Anklang an das Wort »Konzentrationslager« herzustellen, und es dann augenzwinkernd abzustreiten.
Die Medien thematisieren die Anfütterung durch die Volkspartei kaum und teilen eine gewisse Faszination für die rechten Schreihälse. Sie richten der SPÖ aus, sie müssen sich in der »Ausländerfrage« positionieren. Es ist ein alarmierendes Signal, wie weit die sprachliche Radikalisierung der Qualitätsmedien fortgeschritten ist. Sie haben die SPÖ perfekt in ein Double-Bind gelockt: Einmal ist sie nicht mehr souzialdemokratisch; äußert sie aber klassisch sozialdemokratische Grundsätze ist sie »unrealistisch«, »weltfremd«, »marxistisch« und eben ohne Lösung der »Ausländerfrage« – alles Zitate aus »Qualitätszeitungen«.
Die Selbstaufgabe Österreichs
Heute sitzen wir bei einer Fußball-EM vor den Fernsehgeräten und stellen fest, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht alle Spiele Österreichs überträgt. Wir müssen dazu auf das Oligarchen-Fernsehen umschalten, das stattdessen an der Brust der Rechtsradikalen großgezogen wurde und in dessen sogenannten Talkshows der Rechtsradikalismus großgezogen wird. Es ist die Selbstaufgabe Österreichs, eine Selbstaufgabe der Öffentlichkeit, die keine freien Foren mehr will und keine moralische und inhaltliche Verantwortung für Diskurse. Das steht zwar in einem Gesetz, aber was kümmern uns schon Gesetze!
Die Medien der Oligarchen sitzen fest im Sattel. Die Politik von ÖVP und FPÖ stopft ihnen den Bauch voll und hält ihnen den Rücken frei. Die Raiffeisenbank hat zumindest eine Tageszeitung und ein Wochenmagazin. Und nochmals zurück zur MIR-Karte: Eine Dame aus Russland, die nicht mehr dort lebt, aber zu einem Besuch in ihrem Heimatland war, wurde bei der Ausreise angehalten, weil sie unvorsichtigerweise per Überweisung einen Betrag in der Höhe von ca. 100 Euro für ukrainische Kinder, die ihre Eltern im Krieg verloren haben, gespendet hat. Sie wurde angeklagt und zu zehn Jahren Haft verurteilt.
Titelbild: Miriam Moné