Immer, wenn Sozialisten von Konservativen eine Regierung übernehmen, wird in der Presse gemahnt und daran erinnert, wie schwierig ihre die politische Aufgabe sei. Im Fall der Labour-Regierung unter Keir Starmer, die gerade ihr Amt angetreten hat, ist sie zumindest theoretisch leicht, weil auch Konservativen klar ist: Die jahrzehntelange Misswirtschaft neo-liberaler Tory-Regierungen muss weg.
Vor fünfundvierzig Jahren begann mit dem Wahlsieg Margaret Thatchers im Jahr 1979 der Neo-Liberalismus seinen Siegeszug in der westlichen Welt. »Tory, Tory, Halleluja« titelte damals eine große englische Zeitung. Doch außer religiöser Verehrung ist aus der Sicht der letzten fünfundvierzig Jahre – in denen die Tories zweiunddreißig Jahre lang Großbritannien regierten – nichts übriggeblieben, für das es Lob gäbe. Auch von konservativen Kommentatoren nicht. Niklaus Nuspliger berichtet am 5. Juli 2024 für die Neue Zürcher Zeitung aus London:
Die britische Wirtschaft schwächelt, die Steuerlast und die Staatsverschuldung sind so hoch wie seit Jahrzehnten nicht. Gleichzeitig ist der Bedarf an Investitionen in die Infrastruktur riesig.
Aufräumen
All das sind angeblich Kern-Kompetenzen konservativer Parteien. Die Tory-Regierungen der letzten vierzehn Jahre hätten bereits mit dem »Laissez-faire-Kapitalismus« der Thatcher- und Major-Regierungen aufräumen müssen, meint Sebastian Borger in Der Standard:
Statt den Auswüchsen der einst von Margaret Thatcher angestoßenen Privatisierung von Energie- und Wasserversorgern energisch zu begegnen, haben sie den verantwortungslosen Laissez-faire-Kapitalismus auf die Spitze getrieben. Die Folge sind Strom- und Gasrechnungen, die zu den höchsten in Europa zählen, sowie dauerhaft abwasserverseuchte Strände und Flüsse. Wenn nicht alles täuscht, droht einigen der massiv verschuldeten Unternehmen die Insolvenz, weil sie ihren Aktionären Milliardengewinne zuschoben, anstatt die elementare Bedürfnisse der Bevölkerung im Auge zu behalten. Vor allem aber haben die Tories Politik nur noch als Spektakel verstanden und die Bevölkerung als Publikum ihres Psychodramas missbraucht.
Tot und begraben
Irgendwie erinnert mich der letzte Satz an die heutige Österreichische Volkspartei. Nun hat aber Großbritannien sich bei den Wahlen deutlich für einen anderen Weg entschieden. Die Erleichterung über das Ende der Tory-Regierung ist allseits groß. Der neue Premier, der die Regierung führt, heißt Keir Starmer und er hat auch gleich bei seinem ersten Auftreten klare Handlungen gesetzt. Die Zeit schreibt am 6. Juli 2024:
Es wird erwartet, dass die neue Regierung umgehend mehrere Vorhaben umsetzt, die sie im Wahlkampf angekündigt hat. Dazu zählt, das umstrittene Vorhaben von Starmers Vorgänger Rishi Sunak zu beenden, irreguläre Migranten ohne Rücksicht auf ihre Herkunft nach Ruanda abzuschieben.
»Das Ruanda-Programm war tot und begraben, bevor es begonnen hat«, sagte Starmer nach der ersten Kabinettssitzung der neuen Labourregierung. Bei den Plänen habe es sich nur um Symbolpolitik gehandelt, sagte der Regierungschef weiter. Der Schritt war erwartet worden, die Labourpartei hatte bereits im Wahlkampf angekündigt, das Programm einzustellen.
Wohnbau und Verstaatlichung
Starmer setzt also eine Wahlkampfansage um. Aber Moment? War das Ruanda-Modell nicht das Vorbild-Programm für die CdU? Vielleicht sollten die deutschen Konservativen ein zweites Mal darüber nachdenken. Auch Verfehlungen der Deregulierung und Privatisierung sollen rückgängig gemacht werden, wie Die Zeit berichtet:
Weitere Vorhaben wurden in der Sitzung vorgestellt. Der neue Gesundheitsminister Wes Streeting etwa kündigte Verhandlungen mit den Assistenzärzten an, die seit Langem mit Streiks immer wieder das Gesundheitssystem lahmlegen. Erwartet werden von der zuständigen Ministerin Angela Rayner auch konkrete Maßnahmen, damit mehr Wohnungen gebaut werden. Die neue Verkehrsministerin Louise Haigh will die zahlreichen Privatbahnen verstaatlichen.
Dass man sich all diese Misswirtschaft über Jahrzehnte ersparen hätte können, ist den Kommentatoren weniger Worte Wert, als dem neuen Premier Starmer mitzuteilen, was er unbedingt tun müsse. Thomas Vieregge am 5. Juli 2024 in Die Presse:
Starmer muss die Briten aus dem Tief reißen, er muss das Vertrauen wiederherstellen. Er hat bereits durchblicken lassen, die Insel wieder stärker an Europa zu orientieren.
Brexit wird nicht rückgängig gemacht
Gleich sein erster Besuch führte den neuen britischen Außenminister David Lammy nach Deutschland, wie Daniel Brössler am 7. Juli in der Süddeutschen Zeitung berichtet:
Den neuen britischen Außenminister David Lammy führte gleich seine erste Reise nach Berlin zu Annalena Baerbock. Lammy drückte den Wunsch nach einem Neustart im Verhältnis zur Europäischen Union aus – und sprach damit den deutschen Gastgebern aus dem Herzen. Der britische Austritt aus der EU wird nicht rückgängig gemacht. Wohl aber kann das Vertrauen wieder aufgebaut werden, das die Tories in einer unschlagbaren Mischung aus Ideologie, Verblendung und Inkompetenz zerstört haben. So kann es gelingen, das Verhältnis zwischen Königreich und Union zumindest auf eine vernünftige Grundlage zu stellen.
Nun bekommt Starmers neue Regierung keine Vorschusslorbeeren, es ist aber vielleicht als gutes Omen zu lesen, dass man den neuen Premier als uncharismatisch und als Langeweiler bezeichnet. Nochmals Niklaus Nuspliger, der sich in seiner Analyse auf Starmer-Biograf Tom Baldwin beruft:
Vielleicht braucht es einen Langweiler, um nach den Turbulenzen und Skandalen der letzten Jahre Seriosität und Integrität in die Politik zurückzubringen. Starmer sagt, Großbritannien stehe vor einem Jahrzehnt der nationalen Erneuerung. Damit verspricht er nicht das Blaue vom Himmel, sondern räumt ein, dass sich die Probleme nicht über Nacht in Luft auflösen werden.
Seriosität und Integrität
Vielleicht brauchen auch Österreich, Frankreich, Ungarn und andere Länder eine Langeweilerin oder einen Langeweiler. Jedenfalls könnten Seriosität und Integrität uns weiterbringen. Doch Starmer ist kein Sozialdemokrat der Neunzigerjahre, kein Technokrat und kein Genosse der Bosse. Die kurze Darstellung seiner Biografie in Nuspligers NZZ-Artikel macht schnell klar, dass dieser Mann nicht nur Hirn, sondern auch Grundsätze hat:
Starmer erlangt das Anwaltspatent und wird Menschenrechtsanwalt. Er verteidigt Umweltaktivisten gegen eine Klage der Fast-Food-Kette McDonald’s. Er repräsentiert Kriminelle, denen in karibischen Ländern die Todesstrafe droht. Und er vertritt zwei radikale islamistische Prediger in einem Auslieferungsverfahren. Später wird Starmer diese Mandate mit dem Anrecht auf Rechtsvertretung begründen, das im englischen Justizsystem jedermann unabhängig von seiner Herkunft und Ideologie zusteht.
Im Jahr 2002 wird er nach Belfast berufen. Im Rahmen des Friedensprozesses in Nordirland begleitet er als Menschenrechtsbeauftragter die Reform der Polizeikräfte, die während des Bürgerkriegs eine umstrittene Rolle gespielt hatten. Später sollte Starmer sagen, er habe in Belfast erkannt, dass Reformen aus dem Inneren einer Institution einfacher zu bewerkstelligen seien als von außen durch Proteste oder Rechtsklagen.
Mister Starmer, where have you been all these years?
Titelbild: ROBERT JAEGER / APA / picturedesk.com