Montag, September 16, 2024

Randnotizen: Die Rolle des Wechselpolitikers

Eine Einstimmung auf den Wahlkampf kündigt ORF.at mit dem Beginn der ORF-Sommergespräche an. Das erste findet am Montag mit Beate Meinl-Reisinger statt. Ob diese Gespräche klare Sicht auf die politischen Verhältnisse werfen werden?

Den Artikel auf orf.at schmücken ein Bild vom Traunsee, wo die ORF-Sommergespräche, die am Montag beginnen, dieses Jahr stattfinden; und ein Bild von Martin Thür, der diese Gespräche führen wird. Thür zu ORF.at:

»Ganz besonders kurz vor der Wahl wird es meine Aufgabe sein, die Inhalte ins Zentrum zu rücken und die Antworten auf die relevanten Fragen einzufordern«, sagt er im Gespräch mit ORF.at. Bei den Gesprächen werde man dieses Jahr mehr Zeit damit verbringen, »die vielen Krisen unserer Zeit zu besprechen und die Konzepte der Kandidatin und der Kandidaten zu hinterfragen.«

Das verspricht zumindest einmal klare Sicht auf die wirklichen Probleme der Welt und des Landes. Man wird sehen, wie weit Thür als Fragender Mut hat, etwa wenn es darum geht, ÖVP-Vorsitzenden Nehammer mit den großen Verfehlungen seiner Partei und seiner Regierung zu konfrontieren: Dem völlig korrupten und kaputten Innenministerium, das er zu verantworten hat. Den europa- und verfassungsfeindlichen Ansagen seiner Partei, die inzwischen wie als Zwillingsbruder von Orbáns Fidesz daherkommt. Und der katastrophalen Finanzpolitik der letzten Jahre, die eine Teuerungswelle und Inflation ausgelöst hat, die weit über dem EU-Durchschnitt liegt. Schon am Sonntag hat Karl Nehammer im Ö1-Sonntagjournal beteuert, es sei »kein Sparpaket nötig«. Nehammer will die klare Sicht auf das Desaster seiner Regierung vernebeln – mit Realitätsverweigerung und Inhaltsleere.

Realitätsverweigerung und Inhaltsleere

In Die Presse kommt Klaus Knittelfelder in seinem Artikel Der Wahlkampf, den wir nötig hätten auf dieses Problem zu sprechen. Er fragt sich, ob Realitätsverweigerung und Inhaltsleere nicht eigentlich strategische Intention sind:

So weiß man etwa just von den Plänen jener Partei, die in allen Umfragen führt, kaum etwas; das aktuelle FPÖ-Wirtschaftsprogramm stammt aus dem Jahr 2017, das Parteiprogramm ist noch älter. Mit der Bierpartei hat überhaupt ein inhaltliches Mysterium Chancen auf den Parlamentseinzug. Erfolg trotz – oder gar wegen – programmatischer Leere? Weil konkrete Vorschläge eh nur Angriffsfläche schaffen? Es wäre eine bittere Erkenntnis, wären wir im politischen Diskurs mittlerweile beim Mikado (wer sich bewegt, verliert) angelangt.

Tuckern, galoppieren und rasen

Knittelfelders Kommentar wirft viele wichtige Fragen auf. Weh tut es nur, wie offensichtlich Die Presse immer noch in jener Sprache erscheint, die seit 2017 ihre klare parteipolitische Zugehörigkeit zur Kurz-Schallenberg-Nehammer-Volkspartei klarmacht. Wie immer wird hier Parteirhetorik unkritisch übernommen und die Gegner der ÖVP derogativ abgehandelt. So heißt es zum Beispiel:

Andreas Babler tuckert seit Freitag mit einem Wahlkampf-Wohnmobil durchs Land.

Warum »tuckert« er mit dem Wohnmobil? Galoppiert Herbert Kickl auf einem braunen Pferd? Rast Karl Nehammer mit dem Verbrennungsmotor? Dazu kommen einige Ausdrücke, die direkt aus der ÖVP-Parteizentrale stammen. Da ist zum Beispiel die Rede von der »radikalisierten« FPÖ unter Herbert Kickl. Eine Ausdrucksweise, die Karl Nehammer eingeführt hat und die vermutlich aus der Feder von Gerald Fleischmann stammt:

Über all dem die Grundsatzfrage, ob mit Herbert Kickls radikalisierten Blauen ein Staat zu machen ist – und wer dabei mittun würde.

Direkt aus der Parteizentrale

Das soll nichts anderes heißen als: Es war schon okay, dass Kickl in einer Koalition mit der ÖVP Innenminister war, denn damals war er moderat. Jetzt ist er radikalisiert.

Es ist natürlich Unsinn. Die FPÖ ist so, wie sie seit 1986 ist. Und Herbert Kickl ist derselbe, der er immer war. Die ÖVP favorisiert die Koalition mit der FPÖ und muss sich im Wahlkampf nun rhetorisch davon abgrenzen, dass sie inhaltlich längst mit der FPÖ deckungsgleich ist: Oligarchenförderung, Pro-Russland-Politik, EU-feindliche Politik und demagogische Ausländerhetze und Islamophobe sind die Markenzeichen beider.

Von einer anderen Seite beleuchtet Conrad Seidl in Der Standard die bevorstehenden Wahlen: aus der Perspektive der Wählerinnen und Wähler. Sein Artikel Jeder Zweite sieht sich als Wechselwähler beleuchtet anhand einer Studie, die beim Market-Institut in Auftrag gegeben wurde, einer Veränderung in der Kontinuität politischer Grundeinstellungen:

»Wenn Sie an Ihr eigenes Wahlverhalten denken: Sind Sie da eher ein Stammwähler oder eher ein Wechselwähler?« Diese Frage legte das Linzer Market-Institut im Juli 815 Wahlberechtigten vor – und die Hälfte davon bezeichnete sich ausdrücklich als Wechselwähler, nur 40 Prozent sagten, dass sie Stammwähler seien. Vor der Nationalratswahl 2017 war das Verhältnis noch umgekehrt.

Wechselpolitiker

Glaubt man den Ergebnissen dieser Studie, so zeigt sich ein demokratisch bedenkliches Bild: Weder das Parteiprogramm noch die tatsächlich geleistete Arbeit im Nationalrat, der ja eigentlich bei den Nationalratswahlen gewählt wird, geben für die Mehrheit Ausschlag für die Wahlentscheidung. Interessanterweise kommt Seidl zum Schluss auf eine Selbsteinschätzung der Wählenden zu sprechen.

Ebenfalls nur ein Viertel der Befragten sieht Wechselwähler als besonders gebildet an (die erklärten Wechselwähler schätzen sich allerdings selbst als besser gebildet ein) – und gar nur jeder elfte Befragte sieht Wechselwähler als Teil einer Elite.

Das wahre Problem ist: Wechselwähler befördern Wechselpolitiker. Die FPÖ besteht ausschließlich aus Wechselpolitikern. Sie wechseln ihre Ansichten je nachdem, ob sie regieren oder in Opposition sind. Die FPÖ hat vor den letzten Wahlen Vieles versprochen: Eine verpflichtende Volksabstimmung zu CETA im Jahr 2017 als Koalitionsbedingung. In der Regierung hat sie CETA ohne Volksabstimmung ratifiziert. Nein zum ÖVP-Sicherheitspaket. Herbert Kickl, der es im Wahlkampf als »DDR 4.0« bezeichnete, hat es als Minister sofort umgesetzt. Direkte Demokratie. Keine Rede mehr davon, als die FPÖ in der Regierung saß.

Wie in den USA im Jahr 2016 hat sich in Österreich eine oligarchische Politik durchgesetzt, deren konsequente Verlogenheit und Korruptheit wir bis ins Detail kennen. In den USA wurde sie 2020 abgewählt. In Österreich ist sie bis heute an der Macht. Eine weitere FPÖ-ÖVP-Koalition oder ÖVP-Grünen-Regierung wäre ihre Fortsetzung. Es ist keine Frage der Bildung oder Eliten-Zugehörigkeit diese Entwicklung zu erkennen und sich gegen sie zu stellen. Es ist eine Frage der klaren Sicht. Wechselpolitiker sind das Ende der Demokratie.


Titelbild: ROBERT JAEGER / APA / picturedesk.com

Autor

  • Daniel Wisser

    Daniel Wisser ist preisgekrönter Autor von Romanen und Kurzgeschichten. Scharf und genau beschreibt er, wie ein Land das Gleichgewicht verliert.

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