Montag, September 16, 2024

Das große Brechen

Die Menschenrechte sind nicht ohne Grund aus der schrecklichen Wiege des Holocaust gehoben worden, und je mehr gensplice man nun mit ihnen betreibt, desto leichter wird der Weg zurück in das Barbarische sein. Wir sind schon unterwegs.

Etwas bricht im Staate Österreich. Aber es bricht nicht nur hier, es bricht in Europa, in den USA, es bricht in Großbritannien, die Sollbruchstellen sind bald porös genug. Man kann das Metall schon beinahe hören, wie es sich zersetzt, das Knacken der tragenden Platten, durch die sich Sprünge verzweigen, das Ächzen im Gebälk der sogenannten demokratischen Gesellschaften. Dort, wo Plutokratie und Ochlokratie sich Hand in Hand daran machen, an den Grundfesten unserer kleinsten gemeinsamen Nenner zu rütteln, die da heißen: jeder und jede hat die gleichen Rechte. Jeder und jede hat Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit (und das inkludiert auch die Freiheit von Religion), das Recht auf medizinische und juristische Versorgung und auf das Wahlrecht. Jeder Mensch ist mit den gleichen Rechten und der gleichen Würde geboren. Die Menschenrechte sind nicht ohne Grund aus der schrecklichen Wiege des Holocaust gehoben worden, und je mehr gensplice man nun mit ihnen betreibt, desto leichter wird der Weg zurück in das Barbarische sein. Wir sind schon unterwegs.

Autokraten und Schreihälse

Schon gehen zu viele neue und alte Oligarchen schwanger mit verschiedenen Ideen, wie man diese Gleichheit endlich aushebeln könnte. Sie stört das Geschäft, sie macht Wellen, wo man ein leichtes Durchsurfen über den Plebs hinweg erwartet hätte. Demokratie ist unbotmäßig und unpraktisch für solche Surf- und Tauchgänge. Autokraten aller Länder vereinigen sich, gemeinsam statt einsam. Billionäre spielen mit der wackeligen Gesellschaftskonstruktion Mikado. Die Oben entfernen sich in Lichtgeschwindigkeit von denen unten. Die Mitte zerfasert zwischen diesen Fliehkraftzonen. Österreich könnte so anders sein. Es könnte eine Brücke sein, ein Ort der Offenheit, der Sicherheit und des Austausches. Aber dafür sind Format und Mut notwendig, die man in der aktiven Politik seit Jahren schmerzhaft vermisst. Erhaltungstrieb scheint im Moment ausschließlich der eigenen Karriere zugeschrieben zu werden. Versorgungsposten regnen wie Sterntaler in zügig gelüpfte Schürzchen. Traditionen werden beschworen, während die Taler klingend aufeinanderprallen. Die Traditionen. Nun. Sie können etwas Wichtiges sein, die Erinnerung an die Generationen davor, im Idealfall das Ehren ihrer Weisheit und das Korrigieren ihrer Fehlerhaftigkeiten. Aber: Das Alte wurde nicht geschützt, nur zu dümmlichen Slogans pervertiert. Das Neue… ach das Neue. Kommt das Neue von einer Oppositionspartei, die gerade keine Regierungsverantwortung hat, wird es niedergemacht, ins Lächerliche gezogen, mit gerümpfter Nase desavouiert. Es darf niemand Land gewinnen, Erfolg haben, etwas erreichen, das allen guttun würde, ein Besinnen auf die vielen und deren Würde, ein Bestärken derer, die verunsichert sind. Die Verunsicherten sollen nur von den Lauthalsschreiern abgeholt werden, die nichts, aber auch rein gar nichts verbessern werden für diese Verunsicherten. So will es der Boulevard. Und der Boulevard hat eigene Interessen, die gewiss nicht mit dem Zitat der Brüder Strugatzki umrissen werden könnten: „Glück für alle, umsonst, niemand soll erniedrigt von hier fortgehen!“


Titelbild: Miriam Moné

Autor

  • Julya Rabinowich

    Julya Rabinowich ist eine der bedeutendsten österreichischen Autorinnen. Bei uns blickt sie in die Abgründe der Republik.

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