Die meisten Menschen sind heute davon überzeugt, in einer Zeit besonderer Krisen zu leben. Aber stimmt das auch? Und ist das Wort Krise exakt genug oder wird es sehr leichtfertig verwendet?
Gerade habe ich die Mitarbeit an einer Publikation beendet, die Ausnahmezustand heißt und vom Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, der Wienbibliothek im Rathaus und dem Wallstein Verlag herausgeben wird. Neben vielen interessanten Aufsätzen erscheint es im Herbst mit literarischen Reflexionen von Valerie Fritsch, Franz Schuh, Marlene Streeruwitz und mir. Ich habe dafür eine Kurzgeschichte geschrieben, die um die Frage kreist, ob der Zeitpunkt und Umfang einer Krise genau festgemacht werden kann, wenn man sich selbst in einer Krise befindet.
Es wird heute überall von einer Zeit großer Krisen gesprochen, doch das – kommt mir vor – ein wenig leichtfertig. Ich vergleiche die heutige Zeit immer wieder gerne mit der Zeit um meine Geburt im Jahr 1971. Auch 1971 und in den folgenden Jahren erschütterten Terroranschläge die Welt, beispielsweise 1972 bei der Olympiade in München. Auch damals tobten Kriege auf der Welt. Und damals gab es noch Diktaturen in Westeuropa, in Ländern, die heute Mitglieder der Europäischen Union sind: Spanien, Portugal, Griechenland.
Das Post-Wort
Im Journalismus ist es heute Mode geworden, überall das Wort Post voranzustellen: Es ist die Rede von Post-Kolonialismus, Post-Moderne, Post-Demokratie, Post-Faktischem. Aber ist nicht der Kolonialismus vielerorten noch im Gange? Ist nicht die Demokratie in der Krise, weil wir ihre konsequente Weiterentwicklung aufgegeben haben?
Der Siegeszug neokonservativer und reaktionärer Politik, die heute wieder gegen Abtreibung, Gleichbehandlung der Frau, Friedensbemühungen, Abrüstung, gegen Umweltschutz und Umverteilung erfolgreich auftritt, zeigt doch vor allem eines: Die Verankerung egalitärer Grundsätze in unserer Gesellschaft und ihrem Kern – der Verfassung – wackelt. Eine Politikerin, die Juristin ist, spricht davon, dass die Menschenrechte neu definiert werden müssten, so als wäre ein Grundrecht anders zu definieren, wenn sich die politische Lage ändert. Wenn das so wäre, dann folgte das Recht der Politik, wie es ja auch schon einmal ein österreichischer Minister gefordert hat.
Anlassbezogene Politik
Die Krise wird in der Politik bemüht, um anlassbezogen jene Änderungen herbeizuführen, die einer Regierung oder Partei genehm sind. Während also die ÖVP in der Klimakrise keinen Handlungsbedarf sieht und mit dem »Festhalten am Verbrenner« in den Wahlkampf geht, während sie in der Krise der Teuerung und Inflation keinen Handlungsbedarf sieht, wollte sie nun aufgrund einer Krise anlassbezogen eine Verschärfung der Überwachung durchsetzen. Man sucht sich also die Krisen aus, um daraus einen Vorteil zu ziehen.
Die Teuerung betrifft mich persönlich sehr stark. Das Überleben als freier Schriftsteller, wie es mir ab 2017 möglich war, ist seit 2021 viel schwieriger geworden. Ich muss mehr und anderes produzieren, um als Selbständiger überleben zu können. Dazu kommt, dass trotz der sehr guten Kulturberichterstattung in Österreich, der Raum dafür in den Medien stets kleiner wird und Kunst und Kultur an Stellenwert verlieren.
Kein Schutz und keine Regeln
Würde ich anlassbezogen agieren, müsste ich mich einer Gegenbewegung anschließen, die vermutlich wenig Aussicht darauf hat, dass ihre Forderungen im Wahlkampf relevant sind oder überhaupt erwähnt werden. Das Sinken der Leseleistung in unserem Land und auch der Lesefähigkeit, die Boulevardisierung von Inhalten und die Reduktion auf sehr kurze Reads für Smartphones oder überhaupt kurze Videos zu bekämpfen, verlangte eine sehr große Anstrengung der Gesellschaft. Sie wird dafür mehrheitlich kein Verständnis haben.
Denn so sehr die stärkere Regulierung in unserem Leben Einzug hält, so unreguliert lässt man das World Wide Web und entlässt junge Menschen, die laut Statistiken bis zu acht Stunden am Tag mit dem Handy verbringen, in eine Welt, in der es keinen Schutz und keine Regeln gibt.
Das Schlechtreden von Ideologie
Die Krise unserer Zeit, wenn man von einer solchen sprechen will, ist nicht die Auswirkung einer Entwicklung, in der sich der Neo-Konservatismus durch finanzielle Übermacht und Populismus überall an die Macht kämpft, sondern die ursprünglichen Gründe dieser Entwicklung: Grundsätze und Ideologien sind heute negativ konnotiert.
Ich möchte nicht zu denen gehören, die im Kant-Jubiläumsjahr seinen Namen benutzen, um simple Gesellschaftsanalysen abzugeben. Es muss aber schon als bemerkenswert angesehen werden, wie in der Aufklärung versucht wurde, ein grundsätzliches Weltbild von Erkenntnistheorie über Ethik und Ästhetik zu entwerfen, das als Anhaltspunkt für eine Entwicklung der Menschheit gelten soll. Mag sein, dass das naiv ist. Mag sein, dass es ein wenig großkotzig ist. Aber es wäre heute wieder bitter nötig.
Die Fraktionierung der Gesellschaft
Die Post-Moderne hat ein Ende aller Verbindlichkeiten ausgerufen. Ihr Anything goes ist dem Kapitalismus genehm, der keine Philosophie, ja nicht einmal eine Ideologie ist, sondern der sich aus allen bestehenden Ansätzen die aussucht, die er gerade braucht. Die Krise unserer Zeit, wenn man von einer solchen sprechen will, ist, dass wir dem Kapitalismus nichts mehr entgegenzusetzen haben. Seine Hegemonie ist ein Problem. Und ihm werden nun Demokratie, Fakten und Moderne ein Problem; daher ist die Rede von Post-Demokratie, Post-Faktischem und Post-Moderne.
Die Krise unserer Zeit ist aber auch eine Orientierungslosigkeit derer, die gegen die übelsten Auswüchse des Kapitalismus kämpfen wollen. Wir sehen ihre Fragmentierung und Fraktionierung in fast allen Ländern. Wir sehen, wie sie blindwütig lieber die bekämpfen, die eigentlich dasselbe wollen wie sie, sich aber in einer Detailfrage anders positionieren. Wir sehen, wie sich das, was eine Opposition gegen den ungezügelten Kapitalismus darstellen soll, sich hoffnungslos verläuft. Wenn es überhaupt möglich sein wird, die große Krise unserer Zeit, nämlich die Hegemonie dies Kapitalismus, ein wenig einzudämmen, dann braucht die Menschheit zu allererst die Überzeugung und Gewissheit, dass dieser Kampf gemeinsam geführt werden muss. Alle anderen Krisen schafft der Kapitalismus selbst – und er freut sich über jede von ihnen, weil er sie zum Anlass für seine weitere Expansion nimmt.
Titelbild: Miriam Moné