Montag, September 16, 2024

In Solingen oder in Syrien

Die Reaktionen der Parteien auf den Anschlag in Solingen geben keinen Anlass zur Hoffnung, dass man das Problem an der Wurzel packen will. Man überbietet sich in Gesprächsbereitschaft. Abschieben nach Bulgarien. Ist das die europäische Lösung? Eine Waffenverbotszone. Nur wo? In Solingen oder in Syrien?

Es ist passiert. Wieder einmal. Diesmal in Solingen. Drei Tote und acht Verletzte. Nun gilt es, sich um die Überlebenden und Hinterbliebenen zu kümmern. Nun gilt es für den Rechtsstaat zu handeln. Nun gilt es für die Politik zu analysieren und Konsequenzen aus diesen Analysen zu ziehen.

Der deutsche Kanzler Scholz fordert mehr Abschiebungen und eine Waffenverbotszone. Die zukünftige rechte Mehrheit Deutschlands, bestehend aus einer nach rechts gedrifteten CDU und der neo-faschistischen AfD, schmiedet aus den Pflugscharen geheuchelter Trauer und gespielten Entsetzens schon parteipolitische Schwerter. Die Morde reichen ihnen nicht; sie wollen davon auch profitieren.

Das Schweigen zum Massenmord

Es passiert. Jeden Tag. In Syrien. Von dort stammt der Attentäter von Solingen. Dort herrscht Diktator Baschar Al-Assad, der seit über zehn Jahren die eigene Bevölkerung niedermetzelt. Als er dabei 2013 auch chemische Waffen (u.a. das Giftgas Sarin) einsetzt, ist nichts zu hören aus den USA, nicht aus Großbritannien, Frankreich erlässt einen internationalen Haftbefehl, der letztlich folgenlos bleibt, Schweigen in Österreich, Schweigen in Deutschland, damals unter einer von der CDU angeführten Regierung.

In diesem Bürgerkrieg kämpfen auch die Paramilizen des IS. Sie werden vor allem von Saudi Arabien bewaffnet, ausgestattet und finanziert, das der größte Waffenimporteur der Welt ist. Jedes Jahr erzielen die USA, Großbritannien, Frankreich, Österreich und auch Deutschland höhere Gewinne durch Waffenexporte in Saudi-Arabien. Es sind Milliardengeschäfte. Dazu kein Wort von Kanzler Scholz. Dazu kein Wort von CDU-Chef Merz. Nach Schätzungen ist bisher eine halbe Million Menschen im Bürgerkrieg in Syrien getötet worden.

Billiger und teurer Populismus

Der Grund, warum weder die jetzige deutsche Regierung noch die deutsche Opposition ernsthaft auf dieses Attentat reagieren können, ist ihre Verlogenheit. Sie belügen die Bevölkerung, indem sie verschweigen, dass Deutschland an indirekten Waffenlieferungen an den IS und direkten Geschäften mit Assad jährlich Milliarden verdient.

Die rechten Parteien CDU und AfD machen daraus billigen Populismus. Sie wollen die Toten des Bürgerkriegs in Syrien nun auch für ihre Wahlkampagnen benutzen. Die SPD macht daraus teuren Populismus, indem sie mit ebenfalls xenophoben und völlig falschen Reaktionen die Wählerinnen und Wähler der AfD in die Hände treibt.

Jährlich höhere Gewinne

Effizient abschieben? Nun, gut. Aber was wäre in diesem Fall der Effekt gewesen? Wäre es ein Erfolg für Scholz gewesen, wenn nach erfolgreich erfolgter Abschiebung des Täters aus Deutschland nach Rumänien – seit 2007 EU-Mitglied – das Attentat in Rumänien verübt worden wäre? Eine wahrhaft europäische Lösung! Die wahre Ursache, die Massenflucht aus Syrien, die die größte Fluchtwelle seit dem Völkermord in Ruanda 1994 darstellt, wird damit nicht nur nicht bekämpft – sie wird in der Diskussion gar nicht erwähnt.

Eine Waffenverbotszone. Wo? In Solingen oder in Syrien? 16 Jahre lang – von 1982 bis 1998 – regierte die CDU unter Kanzler Kohl. Sie hat zuerst dabei zugesehen, wie Ronald Reagan begonnen hat, die Taliban zu bewaffnen, dann dem Iran trotz eines Embargos Waffen zu liefern, den Irak gegen den Iran hochzurüsten und jedes Jahr ein größeres Waffengeschäft mit Saudi-Arabien abzuschließen. Deutschland hat dabei mitgemacht und jahrzehntelang gut verdient. Und auch Österreich. Die Gewinne aus Waffenexporten steigen jährlich.

Der größte Zynismus

16 Jahre lang, von 2005 bis 2021 hat die CDU in diesem Jahrhundert die Regierung angeführt. Während Deutschland davon sprach, keine Waffen in kriegsführende Ländern zu liefern, tat es das wohlwissend indirekt und verdiente daran Milliarden. Geredet wurde von Friedenspolitik und vom Kampf gegen Migration. In Wahrheit werden Flüchtlingswellen jeden Tag durch Waffenlieferungen ausgelöst und beschleunigt – und das seit mehr als einem Jahrzehnt. Die deutschen Waffenexporte helfen dabei mit. Das ist die Wahrheit.

Doch Realitätsverweigerung ist die Folge: »Nach Syrien und Afghanistan kann abgeschoben werden, weitere Flüchtlinge aus diesen Ländern nehmen wir nicht auf«, ließ CDU-Chef Merz verlauten. Und er sei weiters dafür, die verhängten Sanktionen gegen Syrien aufzuheben. Das bedeutet, dass einerseits die Europäische Menschenrechtskonvention außer Kraft gesetzt werden soll, wovon die ÖVP und die FPÖ in Österreich schon lange träumen. Im Klartext: Die westlichen Staaten bekämpfen nun ihre eigene Verfassung und ihre eigene Demokratie, um weiter Waffengeschäfte um Milliarden machen zu können. Bizarrer noch Merz‘ Insinuation, sich nun wieder auf die Seite Assads zu stellen (zusammen mit Russland und dem Iran vermutlich). Dann würde der Westen den Krieg auf beiden Seiten befeuern. Man kann sich keinen größeren Zynismus vorstellen.

Waffenexporte einstellen!

Vielleicht ist es zu hart, Friedrich Merz einen faschistischen Zyniker zu nennen. Ich würde daher die Bezeichnung zynischer Faschist vorziehen. Ihm folgt im Übrigen, in der Idee, die Sanktionen gegen Assad aufzuheben, Sahra Wagenknecht in ihrer noch immer nicht ganz spektral definierbaren Melange aus sozialem Nationalismus und nationalem Sozialismus.

Vielleicht … vielleicht wäre es angesichts der Toten und Verletzten von Solingen und ihrer Angehörigen Zeit, Zynismus beiseite zu lassen. Vielleicht wäre es gut, den Menschen einmal die Wahrheit zu sagen. Aber auch, wenn man sie nicht sagt, wissen wir, was die Wahrheit ist: Bevor westliche Staaten Waffenexporte in Unrechtsstaaten wie Saudi Arabien und andere Länder, die den IS unterstützen, nicht zur Gänze einstellen, solange sie Geschäfte mit Diktatoren, die ihre Bevölkerung hinschlachten, nicht einstellen, kann es keine ehrliche, keine aufrichtige, keine sinnvolle und keine zielführende Diskussion geben – nicht über Migration, nicht über Abschiebungen, nicht über Frieden. Und daher auch keine zielführenden Maßnahmen. Das Ziel ist klar: Dass Menschen auf der ganzen Welt nicht zur Flucht aus ihrer Heimat gezwungen sind.

Endlich die Wahrheit sagen!

Von den radikalisierten früheren konservativen Parteien im Westen, die alle bereits Koalitionen mit Neo-Faschisten vorbereiten ist das nicht zu erwarten. Sie werden weiter lügen und zusehen, dass in Syrien gemordet wird und nicht in Solingen. Die Toten sind ihnen egal.

Aber Sozialdemokraten, Grüne und was noch übrig ist an demokratischen Liberalen und Konservativen in Europa müssen endlich den Mut haben die Wahrheit zu sagen. Sie müssen die jahrzehntelangen Verfehlungen der Politik aussprechen und abstellen. Sie müssen eine neue Politik machen, die die direkte und indirekte Unterstützung von Massenmördern und Gewalt- und Unrechtsregimen kategorisch unterbindet.

Autor

  • Daniel Wisser

    Daniel Wisser ist preisgekrönter Autor von Romanen und Kurzgeschichten. Scharf und genau beschreibt er, wie ein Land das Gleichgewicht verliert.

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