Nach Solingen driftet die deutsche Sozialdemokratie weiter nach rechts. Die jüngsten Aussagen von Olaf Scholz und Frank-Walter Steinmeier deuten an, dass sie sich an einem beispiellosen Tabubruch beteiligen könnte: an der Legalisierung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft in der Verfassung.
Bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus von Berlin am 29. Januar 1989 erreichte die Partei Die Republikaner unter Franz Xaver Schönhuber mit 7,5 % den vierten Platz. Schönhuber, früheres Mitglied der Waffen-SS, mischte mit kruden Thesen über »Ausländer« und »Asylanten« auf und feierte im selben Jahr, bei der Europawahl Ende Juni 1989, mit 14,6 % seinen größten Wahlerfolg. Einer, der damals schon vor Rechtsextremismus und Rechtspopulismus warnte, war der Hamburger Verfassungsschützer Christian Lochte, der der CDU angehörte.
Schon am 24. August 1986 wird Christian Lochte im SPIEGEL zitiert: »Unverantwortlich« wetterte der Christdemokrat Christian Lochte, sei das Vorhaben der Union, »die Asylantenfrage zu einem Wahlkampfthema zu machen.« Diesen Satz sollte man mit Helvetica 500 pt ausdrucken, laminieren und in allen CDU-Parteilokalen affichieren lassen. Er zeigt, wenn man ihn mit heutigen Äußerungen von Parteichef Merz vergleicht, das deutliche und traurige Abrücken der einst konservativen CDU vom demokratischen Konsens.
Forderungen nach Entrechtlichung
Noch schlimmer: Der anlassbezogene Rechtsruck, der sich bereits in anlassbezogenen Abschiebungen äußert und Überwachungsphantasien und Ideen für verfassungsfeindlichen Maßnahmen gebiert, hat seit Solingen seinen Weg in die SPD gefunden. Wie Olaf Scholz sich nun der nach rechts gedrifteten CDU und der AfD anbiedert, ist eines Sozialdemokraten unwürdig. Noch unwürdiger und im Kern seiner Aussage die Verfassung in Frage stellend, war die Rede eines Mannes, der – so möchte man meinen – Populismus nicht nötig hätte: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hielt am 1. September in Solingen eine Rede, in der er sagte, man müsse jede Anstrengung unternehmen, um die alten und die neu zu schaffenden Zugangsregeln umzusetzen.
Heribert Prantl stellt daraufhin in der Süddeutschen Zeitung folgende Fragen: »Wirklich jede? Gehört dazu die Entrechtlichung des Umgangs mit Flüchtlingen? Soll den Migranten das Recht, Rechte zu haben, entzogen werden? Gehört dazu dann die Beseitigung auch noch der Reste des Asylgrundrechts, die die Grundgesetzänderung von 1993 übrig gelassen hat?«
Verankerung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft
Zwar haben sich in der Zeit, als die CDU regierte, ähnliche Anschläge wie in Solingen mit mehr Toten als in Solingen zugetragen. Jetzt aber, in der Opposition, ist die Partei schäbig genug, sich diebisch über das Messerattentat zu freuen und damit Rechtspopulismus zu betreiben. Die Frage nach den Kernursachen von Flucht und Migration stellt sie erst gar nicht. Und längst fehlen ihr Köpfe wie Christian Lochte, die Fragen stellen könnten, wie z.B.: Kann es ein entrechtlichtes Recht geben? Und dann das fatale Signal der SPD: Wir sind gesprächsbereit. Wir machen mit.
Man muss nur antizipieren, dass die scheinbar anlassbezogene Politik einen tieferen, gezielten Hintergrund hat: ein Recht, das sich gegen das Volk und die Verfassung wendet. Denn es gilt auch für Solingen: Der bestehende Rechtsrahmen wurde nicht ausgeschöpft. Wozu also Rechtsverschärfungen fordern, wenn man bestehende Möglichkeiten nicht nutzt? Hierin sieht man den Unernst der anlassbezogenen Debatte, die aus den Krodokilstränen über einen schrecklichen Anschlag ganz anderes Kapital schlagen will: de jure eine Zwei-Klassen-Gesellschaft zu verankern. Es ist ein Plan, den so mancher stramme Rechte ja auch schon offen ausgesprochen hat.
Generalverdacht gegen die Bevölkerung
Rufe danach gibt es nicht nur in Deutschland. Auch in Österreich werden solche Forderungen regelmäßig erhoben; in der FPÖ und auch im rechten, neo-faschistischen Flügel der ÖVP, von Personen wie Ministerin Edtstadler oder August Wöginger. Meist handelt es sich dabei um Vorstöße zu einer »Überarbeitung« (Wöginger) oder veränderten »Auslegung« (Edtstadler) der Menschenrechtskonvention. Das ist natürlich ein Widerspruch in sich; denn wenn von »Grundrecht« die Rede ist, schließt schon der Begriff anlassbezogene Auslegungen oder bedingte Gültigkeit, die von Abstammung, Herkunft, Weltanschauung u.a. abhängig ist, kategorisch aus.
Das wissen auch die, die derlei fordern. Sie versuchen, die demokratische Verfassung abzuschaffen, diese Abschaffung den Menschen aber als Dienst an der Allgemeinheit zu verkaufen. Weil das Innenministerium vor dem Anschlag von Wien am 2. November 2020 nicht auf die Warnungen eines Geheimdienstes gehört und den späteren Täter in Gewahrsam genommen hat, was seine Pflicht gewesen wäre, sollten danach schärfere Überwachungsgesetze beschlossen werden, die die gesamte Bevölkerung betreffen. Weil man einen Verdächtigen gewähren ließ, sollen in Zukunft alle verdächtigt werden.
Totalitäre Visionen
Die Visionen einer Zwei-Klassen-Gesellschaft, die in Deutschland nun auch CDU und SPD gegen die eigene Verfassung führen, sind nichts anderes: Sie werden, wenn man sie umsetzt, einen Rahmen schaffen, innerhalb dessen man jedermann kriminalisieren kann – aufgrund seiner politischen Einstellung, seiner Herkunft oder was auch immer. Wie sich das in Diktaturen abgespielt hat und abspielt, ist in der Literatur vielfach dargestellt worden. Man muss nicht daraufhinweisen, dass es totalitäre Visionen sind. Sie schaffen den Referenzrahmen für die Ausgrenzung und Verfolgung von Menschen, die Machthabern unliebsam sind.
Heribert Prantl weiter in seinem Artikel: Soll Deutschland sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention hinausschleichen, wie das in den jüngsten Asylbeschlüssen der Ampelregierung klandestin schon angelegt ist? Oder soll man diese Konvention, 73 Jahre nach ihrer Verkündung, gleich ganz und gar kündigen – als knalliges Signal für die Begrenzung des Zugangs? Soll Deutschland, wenn es um Flüchtlinge geht, sich ungarisieren? Ist das die „Zeitenwende in der Migrationspolitik“, die in der CDU gefordert wird? Wenn all das, was derzeit zur „Begrenzung des Zugangs“ plakatiert wird, Gesetz und Praxis würde – dann liefe das darauf hinaus, den Artikel 1 des Grundgesetzes unter Vorbehalt zu stellen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ steht da.
Die SPD muss umkehren
Ein Vorbehalt gegen Artikel 1 des Grundgesetzes – das ist wohl ein Euphemismus für die Abschaffung der Demokratie. Jeder Staat muss davor gewarnt sein, jene politischen Kräfte gewähren zu lassen, die von einem solchen Kippen der Verfassung träumen. Mit diesem Schritt beginnt nicht die Verfolgung von Asylanten, denn die werden ja als Vorwand für die Politik gegen die Menschen dringend gebraucht. Mit diesem Schritt kann jede und jeder rechtlos gemacht und damit verfolgt, ausgewiesen oder inhaftiert werden. Die Feindbilder des Faschismus und der totalitären Systeme sind immer so dehnbar und offen für indiviudelle Auslegung gewesen, wie sich das die Neo-Faschisten heute für die Menschenrechtskonvention wünschen.
Wir stehen – und das ist keine Übertreibung, auch wenn Rechtsextremisten und Neo-Faschisten, die sich ja meist selbst als Demokraten bezeichnen, das immer so hinstellen – in vielen Ländern davor, dass die rechtlichen Grundlagen für eine Zwei-Klassen-Gesellschaft gelegt werden. Die deutschen Sozialdemokraten sind dazu angehalten, die jetzigen Positionen von Scholz und Steinmeier sofort wieder zu verwerfen. Um jeden Preis! Denn wenn sie Derartiges fordern, sind sie nicht nur keine Sozialdemokraten, sondern auch keine Demokraten mehr.