Montag, September 16, 2024

Der deutsche Welttag des Oxymorons

Die Pressereaktionen auf die Wahlen in Thüringen und Sachsen zeigen, dass Bundesthemen und Weltpolitik den Ausschlag für das Wahlergebnis gaben. Konzepte für die beiden Bundesländer, die man dringend brauchte, spielten keine Rolle. Es weht ein kalter Wind in Deutschland: Der Wind der Dreißigerjahre.

Wenn es einen Welttag des Oxymorons gäbe, wäre er gestern gewesen – und zwar nur in Deutschland. Im Osten, den es seit der Wiedervereinigung nicht mehr gibt, wurde in zwei Bundesländern gewählt. In Thüringen liegt die AfD weit vor der CDU und das BSW, das Bündnis von Sahra Wagenknecht mit Sahra Wagenknecht, liegt an dritter Stelle. In Sachsen liegt die CDU knapp vor der AfD und das BWS ebenfalls an dritter Stelle. Roland Preuß in der Süddeutschen Zeitung:

Das neue Gewicht der AfD will Björn Höcke die Journalisten gleich spüren lassen. Als der ARD-Moderator dem AfD-Landeschef im Interview zum Einstieg vorhält, dass seine Partei in Thüringen die meisten Stimmen erhalten habe, aber als gesichert rechtsextrem eingestuft werde, fällt Höcke ihm gleich ins Wort. „Hören Sie auf, mich zu stigmatisieren“, der Moderator wolle doch wohl nicht „ein Drittel der Wähler als rechtsextrem einstufen“, sagt Höcke forsch – und schmunzelt den Moderator, Gunnar Breske, provozierend an. Diesen Wahlerfolg will sich der Thüringer AfD-Partei- und Fraktionschef nicht durch kritische Fragen vermiesen lassen. Er sehe das Wahlergebnis als Regierungsauftrag, gibt Höcke zu verstehen, und man werde nun beraten, welche Parteien man zu Gesprächen dazu einlade. Das Ergebnis ist indes erwartbar: Alle anderen Parteien haben eine Koalition mit der AfD vor der Wahl ausgeschlossen.

Und Preuß weiter zum Ergebnis in Sachsen:

In Sachsen kann die AfD ebenfalls deutliche Zugewinne verbuchen, unklar war allerdings, ob sie die regierende CDU mit Ministerpräsident Michael Kretschmer noch überholen kann. Die Christdemokraten lagen in den Hochrechnungen mit etwa 32 Prozent knapp vorne. Auch hier könnte die AfD ein Drittel der Mandate im Landtag erringen. AfD-Bundeschef Tino Chrupalla nannte das Ergebnis „sensationell“. Auch der AfD-Landesverband Sachsen wird vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft.

Totale Blockade

Zumindest ist die AfD nun eine gewaltige Blockademacht, wie Leonie Feuerbach und Markus Wehner in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erklären:

Mit der Sperrminorität von einem Drittel der Sitze kann die AfD wichtige Entscheidungen blockieren, darunter Änderungen der Verfassung, die Wahl von Verfassungsrichtern und die Auflösung des Landtags. Auch die Besetzung der Parlamentarischen Kontrollkommission, die den Verfassungsschutz kontrolliert, braucht eine Zweidrittelmehrheit im Thüringer Landtag.

Und diese Blockade gilt anscheinend auch der vierten Macht – dem Journalismus, der sich mit Boykotten durch die AfD abfinden muss:

Jubeln will die AfD am Sonntagabend aber lieber für sich. Nachdem die Partei mehrere Medien nicht zur Wahlparty zugelassen hatte, waren „Spiegel“, Bild“, „Welt“ und „taz“ erfolgreich vor Gericht dagegen vorgegangen. Die AfD schloss daraufhin die gesamte Presse von der Veranstaltung in einem italienischen Restaurant in Erfurt aus. Ausschlaggebend dafür seien Platzgründe.

Keine Konzepte für marode Infrastruktur

Der Wahlkampf, der sich ausschließlich um Bundesthemen drehte, zeigt, dass es offensichtlich keine Rezepte für die Strukturprobleme eines Bundeslands braucht, um dort erfolgreich zu sein. Gerade in Thüringen, wo man massiv in Infrastruktur investieren müsste und Konzepte für die Entwicklung von Lebensräumen braucht, scheint der radikale Rechtsruck der Mehrheit als Allheilmittel. Er geht auch vonstatten, indem die Linke durch die Abspaltung einer populistischen, rechten Linkspartei – ein weiteres Oxymoron – pulverisiert wird. Katrin Gottschalk in der taz:

Dieser Wahlkampf in Sachsen und Thüringen war eine Farce. Erstens wurde die Zivilgesellschaft mit ihren Themen nicht ernst genommen. Egal wie präsent diese auf der Straße war – die Anliegen der vielen De­mo­kra­t*in­nen mussten hinter den Forderungen der Rechten anstehen und einer Anti-Ampel-Rhetorik weichen. Noch dazu ging es immer wieder um weit entfernte Bundesthemen.

Wollt ihr den totalen Rechtsruck?

Tatsächlich war das Ampel-Bashing im Wahlkampf unerträglich. Doch ein Deutschland mit bald zumindest sechs Parteien im Bundestag wird sich wohl an Dreiparteienkoalitionen gewöhnen müssen. Unübersehbar der Rechtsruck der CDU. Damit sind die antifaschistischen Schranken einer der letzten einst soliden konservativen Parteien gefallen. Die taz weiter:

CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt forderte nach dem Attentat in Solingen, die Ampel müsse zurücktreten. Hatte die CDU das nach dem Attentat von Hanau auch in Erwägung gezogen, als sie im Bund regierte und ein Rassist neun Menschen mit Migrationshintergrund erschoss? Wieso lässt sich die CDU immer wieder von Rechtsextremen treiben und gibt ihnen so immer mehr Macht?

War diese Wahl aber eine typische Reaktion des Ostens auf die Bundespolitik oder nicht? Christian Tretbar im Tagesspiegel macht vor allem die Haltung zu Russland geltend:

Und doch gibt es ostdeutsche Effekte, die den Erfolg der Extremisten verstärkt haben. Viel stärker als im Westen kann das BSW im Osten mit ihrem Kuschelkurs Richtung Wladimir Putin punkten. Nicht alle im Osten ticken so. Aber es sind auch nicht nur die Alt-Kader der SED und ihre Kinder, bei denen der Wagenknecht-Kurs gut ankommt. Dazu kommen jene, die eine diffuse Angst haben und hoffen, dass Russland gnädig ist, wenn man Putin nicht erzürnt. Diese Mischung gibt es so ausgeprägt im Westen nicht.

Der Wind der Dreißigerjahre

Und die Kanzlerpartei? Peter Dausend in der ZEIT nennt sie den Regierungsergänzungswinzling:

Das Schlimmste – das Verschwinden aus einem oder gar beiden Landtagen – bleibt der SPD erspart, das stand früh am Wahlabend fest. Doch die Volkspartei a. D. festigt mit ihrem jeweils einstelligen Ergebnis ihre Rolle als – im Idealfall – Regierungsergänzungswinzling in einer wachsenden Zahl von Bundesländern.

Angesichts der 2025 kommenden Bundestagswahlen wird weiter über die Ampel geschimpft:

Woher also kommt der Anstoß, der die SPD aus ihrem merkwürdigen Stimmungsmix aus Apathie, Trotz und Wundergläubigkeit befreit und in ihr einen Kamala-Harris-Effekt auslöst? Wenn man an diesem Abend Kevin Kühnert zuhört, dann soll er aus der Auseinandersetzung mit der FDP kommen. “Wir werden uns nicht mehr auf der Nase herumtanzen lassen von denen, die gerade krachend aus den Landtagen geflogen sind”, lautete seine klare Ansage an die FDP. Und mit Blick auf die Rentenreform ergänzte er: Die SPD werde es sich “auch nicht bieten lassen, dass vereinbarte Projekte nicht umgesetzt werden”. Mehr SPD pur, weniger FDP. Darauf zu wetten, wann in der Ampelkoalition die Lichter ausgehen, könnte sich lohnen.

Der Rechtsruck Deutschlands und die Schlappe der Demokratie scheinen also weniger wichtig zu sein als Regierungsbashing und der totale Rechtsruck. Der Wind der Dreißigerjahre weht kalt durch die Bundesrepublik – wenn es eine überhaupt Bundesrepublik ist.

Autor

  • Daniel Wisser

    Daniel Wisser ist preisgekrönter Autor von Romanen und Kurzgeschichten. Scharf und genau beschreibt er, wie ein Land das Gleichgewicht verliert.

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