Migration
Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) kritisiert in der deutschen Presse den Kurs der EU-Kommission in Sachen Migration. Dabei jongliere er aber irreführend mit Zahlen und kritisiere nicht unbedingt die Richtigen, bemängelt Asylrechtsexperte Lukas Gahleitner-Gertz.
Wien, 11. Oktober 2022 | Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) schießt in Sachen Migration scharf gegen die EU-Kommission. Gegenüber der deutschen Zeitung „Die Welt“ (Dienstag-Ausgabe) forderte er Lösungen für „irreguläre Migration“ und dafür, dass Migranten bereits durch viele „sichere“ EU-Länder und Drittstaaten gezogen seien, sobald sie in Österreich ankommen. Asylrechtsexperte Lukas Gahleitner-Gertz bemängelt gegenüber ZackZack, dass Nehammer „ausgerechnet die EU-Kommission kritisiert, an der man sicher Einiges kritisieren kann“, und nicht etwa Staatschefs wie Ungarns Premierminister Victor Orbán, die ein EU-rechtswidriges Asylsystem etabliert hätten.
Experte sieht Abwärts-Spirale im Asylrecht
Nehammer sagte im „Welt“-Interview, er erwarte, dass die EU-Kommission in die Gänge komme, „denn immer mehr Mitgliedsländer sind unzufrieden“. Gahleitner-Gertz wertet Nehammers Aussagen als Versuch, einen “Sündenbock” für die Asyl- und Migrationspolitik der EU zu finden, „die er und die ÖVP seit Jahren mittragen“. Einige Staaten verhielten sich unsolidarisch, indem sie das Asylrecht dermaßen verschärft hätten, dass sie ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht mehr nachkämen.
Die Staaten würden einander dabei unterbieten, wer die Menschen schlechter behandelt. Das mache es für Schutzsuchende schwer, überhaupt Anträge in Grenzstaaten wie Ungarn zu stellen und verunmögliche die europäische Zusammenarbeit, so Gahleitner-Gertz. Bis Anfang Oktober seien etwa in Ungarn rund 115.000 Menschen aufgegriffen, aber nur 36 Asylanträge gestellt worden, berichtete der Asylrechtsexperte auf Twitter.
Österreich führt aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte seit 2011 keine Geflüchteten mehr nach Griechenland zurück. Die Haftbedingungen und Lebensumstände dort entsprechen nicht der Europäischen Menschenrechtskonvention. Seit 2017 gibt es auch keine Rückführungen nach Ungarn, denn das Land hat 2015 mit seinem Notstandsgesetz wegen “Masseneinwanderung” das Asylrecht ausgehebelt. Das geht beides aus einer parlamentarischen Anfragebeantwortung durch Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) von April 2022 hervor.
“Zahlentricksereien”
Im „Welt“-Interview sagte Nehammer, das Maß in Österreich sei voll. Bis August seien fast 57.000 Asylanträge in Österreich gestellt worden, außerdem „versorge“ man 85.000 ukrainische Geflüchtete. „Warum alte Zahlen nennen?“, wollte Gahleitner-Gertz auf Twitter wissen und spricht von „unwürdigen Zahlentricksereien“. Der Großteil derjenigen, die in Österreich Asyl beantragen, ziehe weiter, Österreich winke genauso durch wie andere Staaten.
Mit bisher 70.000 Asylanträgen könnte 2022 tatsächlich ein neues Rekordjahr nach 2015 werden. Damals gab es laut Asyl-Statistik des Innenministeriums 88.340 Anträge. Die derzeit hohen Antragszahlen lägen aber mehr am Einwanderungsregime Österreichs als an einer Asylkrise, sagt Gahleitner-Gertz.
Die sogenannte “illegale” Einwanderung
Denn wie andere Staaten auch hat Österreich geregelt, unter welchen Umständen Menschen einreisen dürfen. Grundsätzlich ist daran einmal nichts verwerflich. Normalerweise brauchen Drittstaatsangehörige für eine Einreise nach Österreich ein Visum. Ansonsten ist die Einwanderung illegal. Auf Basis der Genfer Flüchtlingskonvention gibt es allerdings eine Ausnahme: Wer sich direkt nach Überqueren der Grenze den Behörden stellt und einen Asylantrag stellt, bewegt sich innerhalb des Rechtsrahmens.
Gahleitner-Gertz spricht von einer “Krise der legalen Migrationsmöglichkeiten”, denn abgesehen von Familienzusammenführungen gebe es derzeit von Österreich aus keinerlei Optionen, legal nach Österreich zu migrieren. Deshalb seien Begriffe wie „illegale“ oder „irreguläre“ Migration zu kurz gegriffen.
Wer in Österreich einen Asylantrag stellt, hält sich also in erster Linie straffrei. Der Antrag alleine sagt allerdings noch nichts darüber aus, ob die Person auch in Österreich bleibt. Viele zögen weiter, sagt Asylrechtsexperte Gahleitner-Gertz, ohne dass es hierzulande Verschärfungen gegeben hätte. Was passiere, sei „die Entzauberung des Pull-Faktor-Märchens“.
Die Versorgung der Ukrainer
Nehammers Äußerung, Österreich „versorge“ 85.000 ukrainische Geflüchtete, will Gahleitner-Gertz ebenfalls nicht so stehenlassen: Dass eine gewisse Anzahl an Geflüchteten einen Aufenthaltstitel beantragt habe sage nichts über deren Bezüge aus. Derzeit sind laut Asylkoordination etwa 56.000 ukrainische Geflüchtete in Österreich, die Zahl fluktuiere stark. Sie erhalten Grundversorgung, aber Hilfsorganisationen kritisieren schon lange, dass diese nicht ausreicht und die Versorgung der Geflüchteten seitens der öffentlichen Hand auch sonst zu wünschen übrig lässt.
Teils seien Menschen wieder zurückgekehrt in die Ukraine. Doch je nach Kriegsverlauf und mit dem nahenden Winter könnte die Zahl nach einem Rückgang zuletzt aber wieder steigen, vermutet Gahleitner-Gertz. Die Herausforderung der kommenden Wochen und Monate sei daher sicherzustellen, dass diese Menschen versorgt und untergebracht werden und ihnen ermöglicht werde, an Gesellschafts- und Arbeitsleben teilzunehmen.
(pma)
Titelbild: ZackZack/ Christopher Glanzl