Freitag, Dezember 13, 2024

ÖVP im Gefangenendilemma

In der Öffentlichkeit reitet die ÖVP gegen Schmid aus, doch im Hintergrund herrscht Verzweiflung. Mit vielleicht bald zwei Kronzeugen ist die Strategie der türkisen „Omertà“ de facto gescheitert. Die einzig verbliebene Option für die Partei ist, reinen Tisch zu machen.

Benjamin Weiser

Wien, 27. Oktober 2022 | Lassen Sie uns ein Spiel spielen. Dazu brauchen wir die Spieltheorie. Ihr wohl bekanntestes Modell ist das Gefangenendilemma. Auf die ÖVP angewendet, sieht man, in welch katastrophaler Lage die Partei sich befindet.

Das Gefangenendilemma besagt, dass Gefangene, die als Kronzeugen auspacken und Komplizen überführen, deutlich geringere Strafen zu erwarten haben als die durch die Geständnisse Überführten. Wenn alle schweigen („Omertà“), können theoretisch alle glimpflich davonkommen. Wenn wiederum alle auspacken, gibt es keine Kronzeugen mehr, wodurch der Preis für ein (zu) spätes Geständnis steigt. Was also tun?

Sabine Beinschab und Thomas Schmid haben sich entschieden: Lieber Kronzeugen sein, bevor andere auf die Idee kommen. Auch auf das Risiko hin, trotz des Geständnisses bestraft zu werden. Türkise Schmutzkampagnen inklusive.

Das Ende der türkisen „Omertà

Die Spielsituation der ÖVP-Korruptionsaffäre ist zugleich kompliziert und einfach. Kompliziert, weil schlicht zu viele Spieler auf dem Feld stehen, um sich auf irgendjemanden verlassen zu können. Laut WKStA gibt es 45 Beschuldigte im Casinos-Strafverfahren. Groß angelegte Absprachen, die tatsächlich halten, sind fast unmöglich.

Im Endspiel der ÖVP müssen alle Beteiligten fürchten, bestraft zu werden. Selbst wenn sich die „Familie“ penibel vorbereitet, und Kampagnen gegen Beinschab und Schmid reitet: im Verhörzimmer sitzt man alleine. Niemand weiß, ob man selbst belastet oder geschützt wird.

Opfern für was?

Die Spielsituation ist auf der anderen Seite aber auch relativ einfach. Bei Korruptionsfällen ist es normalerweise eine Seltenheit, handfeste Beweise über bloße Einzelaussagen hinaus zu bekommen. In der ÖVP-Korruptionsaffäre liegen derweil zwei umfassenden Geständnisse von (möglichen) Kronzeugen sowie tausende Chats, Mails und Dokumente vor. Alles zusammen ergibt ein ungewöhnlich dichtes Bild von korrupten Machenschaften, deren strafrechtliche Relevanz noch von den Gerichten zu klären ist.

Fazit: Das Risiko einer türkisen Rest-„Omertà“ ist mindestens so hoch wie das eines zu späten Geständnisses. Totschweigen hätte funktionieren können, hätten sich nur alle darangehalten. Umso ärger ist der Groll gegen Schmid in den Reihen der ÖVP und ihrer Trittbrettfahrer. Sich für die Familie zu opfern, lohnt sich immer weniger.

Schmids ehemalige Vertraute Melanie L. wird ein Lied davon singen können. Gegen sie wurde wegen mutmaßlich falscher Beweisaussage ein Strafantrag (im Frühjahr) eingebracht. Es gehe um ein wahrnehmbares Signal in einem „derart im öffentlichen Interesse stehenden Ermittlungsverfahren“, so die Begründung der WKStA.

Verteiler, Drehscheiben und Naschkatzen

Falsch auszusagen ist denkbar schlecht. Auch Schweigen wird für viele bald keine Option mehr sein. Wichtig ist in jedem Fall, die anderen „Spieler“ zu analysieren. Zusammengefasst gibt es drei Gruppen an „Spielern“. Jene, die den Kurz-Kuchen verteilten (Verteiler); jene, die die Verteilung koordinierten (Drehscheiben); und jene, die sich insbesondere aufs Mitnaschen konzentrierten (Naschkatzen). Thomas Schmid passt wohl am besten in die Gruppe der Drehscheiben, wobei die Grenzen oft fließend sein dürften.

Fest steht: Der Ex-ÖBAG-Chef gefährdet mit seinem Geständnis Angehörige aller drei Gruppen. Die Folge: Im Hintergrund werden die Messer gewetzt, hinter vorgehaltener Hand belasten sich Leute aus dem ÖVP-Umfeld bereits gegenseitig – aus Frust oder Angst oder beidem. „Schauen Sie sich den mal an, ich gebe Ihnen einen Tipp“, heißt es da.

Gerade Naschkatzen müssen aber aufpassen. Um auch in Zukunft etwas vom Kuchen zu haben, dürfen sie es sich nicht mit zu vielen verscherzen. Auspacken ist also nicht für alle die „dominante Strategie“, wie Spieltheoretiker sagen würden.

Ein Albtraum für die ÖVP

Einige, die bislang nur am Rande vorkommen und etwa auch keinen Beschuldigtenstatus haben, halten sich bedeckt und bleiben flexibel. Aber wie lange geht das gut? Wer weiß schon, was die Ermittler auswerten, die Öffentlichkeit aber noch nicht auf dem Schirm hat? Ob es bei zwei Singvögeln bleiben wird, ist trotz aller Spieltheorie Spekulation.

Es handelt sich um die größte Korruptionsaffäre in der Geschichte der Zweiten Republik. Die Wahrscheinlichkeit, dass kein Stein auf dem anderen bleibt, steigt mit jeder Razzia, mit jedem Beschuldigten und mit jedem Kronzeugen. Ein Traum für Korruptionsjäger. Und ein Albtraum für die ÖVP. Ein harter Aufprall ist fast nicht mehr zu verhindern. Der Partei bleibt am Ende nur, reinen Tisch zu machen.

Titelbild: ZackZack / Christopher Glanzl

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