Wie Sebastian Kurz seinen Wählern eine andere Art der Wirklichkeit auftischt
Der aufgeblähte Medienapparat der türkisen Kurz-Truppe, angeführt von Aufpasser Gerald Fleischmann, ist seit Mittwochabend dauerbeschäftigt. Das Totalversagen des Kanzlers im Kleinwalsertal sollte verschwiegen und relativiert werden. Das ist die türkise Realität.
Wien, 15. Mai 2020 | Eigentlich wäre am Mittwoch eine enorm wichtige Nationalratssitzung gewesen, denn es ging um weitere Covid-19-Gesetze und den umstrittenen Paragrafen 15. Dass dieses Gesetz beschlossen wurde, war aber rund 12 Stunden später schon wieder vergessen. Denn da tauchten die Skandalbilder des Kanzlers aus dem Kleinwalsertal auf.
Dem Fleischmann auf der Spur
Solche PR-Inszenierungen sind das Werk des türkisen Medienaufpassers Gerald Fleischmann & Team. Wenn am nächsten Tag „Krone“ oder „Kurier“ titeln, wie sich Fleischmann das vorstellt, dann verwendet er schon mal Richard Wagners Bild des „Gesamtkunstwerks.“ Beim Kleinwalsertal ging das schief, aber wenn Katastrophen geschehen, werkt Türkis im Hintergrund auf Hochtouren, um den Schaden gering zu halten.
Am Mittwochnachmittag erscheint im Fellner-Blatt „oe24“ ein „Politikinsider-Artikel“, der die „Corona-Tour“ des Kanzlers einläutet. Darin der Satz:
„Der VP-Chef wolle sich – stets mit Maske und auf Abstand bedacht – in den Ländern die Sorgen der Menschen wieder direkt anhören.“
Damit war eines schon im Vorhinein abgesichert: Am Kanzler liegt es nicht – und das wird uns den ganzen Skandal über begleiten.
Die Twitter-Empörung rollt los
Was soll er tun, wenn die Wähler unbedingt ihren Kanzler sehen wollen? Dass das Skandal-Video der “Vorarlberger Nachrichten” noch Mittwochabend die sozialen Medien zum Schäumen brachte, lag auch an Gerald Fleischmann. Er postete das Video auf Twitter, mit dem Tweet des VN-Chefredakteurs, wonach „der Kurz-Besuch eher einer Siegerehrung ähnelt.“
Dann brach die Empörungswelle los, die ZackZack in den Reaktionen auf den Skandal-Auftritt zusammengefasst hat.
Türkis spannt den Schutzschirm
Zu diesem Zeitpunkt war die türkise ÖVP schon mittendrin in der Erschaffung einer alternativen Realität. Türkis-Wähler sollten das Kanzler-Bad in der Menge gar nicht zu Gesicht bekommen.
Über seinen Riesen-Account mit 900.000 Fans setzte Kurz um 22:00 Uhr einen Post ab. Zu diesem Zeitpunkt war die Empörungswelle schon losgetreten. Türkis war voll im Verteidigungsmodus – fast nie postet Kurz um 22:00 Uhr auf Facebook. Am Mittwoch schon – aber ohne dem Kleinwalsertaler Menschenbad.
Die APA hatte schon um 20:45 Uhr berichtet, mit den Bildern aus dem Kanzleramt – ohne Bilder und Worte zum Skandal. Zum Aufreger berichtete die APA erst kurz vor Mitternacht. Darin hieß es:
“Ich bitte euch alle, a bissl an Abstand zu halten”, sagte der Kanzler, nachdem er sich seinen Weg durch die Menge zum Eingang gebahnt hatte.
Der Kanzler war wieder völlig unschuldig, genauso wie es „oe24“ am Nachmittag schon vorhergesagt hatte. Und die großen Medienhäuser Österreichs waren dann natürlich zur Stelle, um den APA-Bericht die nötige Reichweite zu geben:
Türkise Bildpolitik im österreichischen Blätterwald. Nur ZackZack veröffentlichte ein Titelbild, worauf Kurz in der Menschenmenge zu sehen ist. Der Rest übernahm die Bilder, die das Kanzleramt Österreich zur Vefügung stellte.
Mittwochnacht war also der türkise Schutzschirm schon gespannt worden. Aber die Empörungswelle sollte nach diesem Skandalauftritt nicht so leicht zu stoppen sein. Die Verteidigungsmanöver der Türkisen gaben der Öffentlichkeit auch am Donnerstag tiefe Einblicke in ihre Strategie.
Neue “Beweise”
Um 11:30 Uhr veröffentlichte ein Sprecher von Sebastian Kurz, einen Zettel der fleißig verteilt worden sein soll. Mittlerweile ist klar: Mehrere Leute vor Ort bestätigen, dass sie den Zettel nie gesehen haben. Trotzdem schaffte es dieser Zettel – direkt aus dem Kanzleramt – bis in die ZIB.
Das wurde gestern noch von der Gemeinde im #Kleinwalsertal verteilt: Es gibt KEINE öffentliche Veranstaltung mit dem Bundeskanzler, es ist ABSTAND zu halten & eine Annäherung an die Delegation ist zu unterlassen… pic.twitter.com/CzPiOlX4OS
— Etienne Berchtold (@ebphilipp) May 14, 2020
Und Pannen mussten ausgebessert werden. Ein Text auf der Homepage der besuchten Gemeinde Mittelberg schilderte den Auftritt des Kanzlers:
„Kanzler Kurz zeigte sich volksnah, ließ seinen Chauffeur nicht nur einmal das Fahrzeug anhalten und nahm Kontakt zu den Menschen auf.“
Ein Eventbericht, wie ihn die türkise Message-Control nicht erlaubt. Deshalb war der Satz auf der Homepage Gemeinde Mittelberg nicht lange online zu finden. Doch das Internet vergisst nicht.
Eine Umfrage – der letzte Trumpf
Zuletzt rückte wieder das umfassend geförderte Fellner-Blatt “oe24” aus, um den Kanzler den Schutzschirm zu spannen. Der letzte Trumpf von Medien-Aufpasser Fleischmann? Eine Umfrage.
Und diese gab Entwarnung: Der Kanzler sitzt fest im Sattel, fast halb Österreich liebe ihn, so der Tenor. Pikant: Laut “Österreich wählt” hat die nichtssagende Online-Umfrage nur 504 Teilnehmer. Im Fellner-Blatt heißt es: 1.000 Befragte. Ein Lehrbuchbeispiel an Fake News. Während “Österreich wählt” noch anmerkte, dass es sich um eine Umfrage mit niedriger Befragtenzahl handelt, präsentiert das Gratis-Blatt “Österreich” in ihrer heutigen Ausgabe die Umfrage so, als wäre sie eine aufwendige Großumfrage.
Aber es geht nur um die Message: Alle lieben den Sebastian – bitte alle den Skandal im Kleinwalsertal, den Fakt, dass der Kanzler seine eigenen Gesetze missachtet, schnellstens vergessen.
Wie der Zufall so will, hatte auch “Der Standard” eine Umfrage beauftragt – die dem Kanzler ebenfalls Traumwerte serviert. Zumindest wurden hier wirklich 1000 Personen befragt, allerdings handelte es sich ebenso um eine Online-Umfrage.
Flucht in die Fernsehstudios
Aber auch das half offenbar nicht, um die Kritik einzubremsen. Es wäre zu erwarten gewesen, dass der Kanzler den “Schweigekanzler” spielt und den Skandal totschweigt. Aber das immense Echo, das sein Missachten des Sicherheitsabstandes mit sich brachte, drängte ihn zu einer Äußerung. Diese begann wieder auf Facebook, dort postete der Kanzler:
Auf der Straße vor dem „Walserhaus“ haben sich spontan zahlreiche Bewohner getroffen und es wurde leider nicht von allen Medienvertretern und Bewohnern der Sicherheitsabstand eingehalten.Ich habe daher mehrfach ersucht, die notwendigen Regeln einzuhalten, auch wenn die Ansteckungszahlen niedrig sind! Und zwar auch, wenn es schwer fällt!
In der ZIB2 und bei “Fellner Live!” wiederholte er dann das: Manche Bewohner hätten sich nicht daran gehalten, vor allem auch die Journalisten hätten sich unkontrolliert aufgeführt – referierte der Kanzler mantraartig.
Er lieferte auch gleich die Lösung: Ab jetzt kommen Bodenmarkierungen für Journalisten.
Der letzte Akt: In den TV-Studios fand Kurz die Schuldigen: Die Journalisten. Die “Krone” half dem Kanzler seinen letzten Akt prominent zu platzieren.
Damit war die alternative, türkise Realität erschaffen. Sogar Konsequenzen hat der Kanzler schon gezogen, weil mit seinem armen Fußvolk eben die Emotion durchgeht, wenn er zu Besuch kommt. Der Sebastian blieb fehlerfrei.
Das “Gesamtkunstwerk” Corona-Tour hatte sich Gerald Fleischmann trotzdem ganz anders vorgestellt.
(ot)
Titelbild: screenshot youtube