Freitag, März 29, 2024

Wahlkampf in der Türkei: Kılıçdaroğlu tritt gegen Erdoğan an

Die größte Oppositionsallianz einigt sich auf Kılıçdaroğlu als Präsidentschaftskandidat für die Wahlen in der Türkei. Noch kurz vor der offiziellen Nominierung drohte das Wahlbündnis aus sechs Parteien über die Kandidatenwahl zu zerbrechen.

Ankara/Wien | Am Montag traten Parteivertreter des „Tisch der Sechs“ vor die Presse, um ihren Präsidentschaftskandidaten für die kommenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai bekanntzugeben. Der CHP-Partei Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu wird das oppositionelle Wahlbündnis bei den Wahlen anführen, mit dem erklärten Ziel, den amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan abzulösen.

Meral Akşener, Vorsitzende der rechtsnationalen İyi Parti (Gute Partei), hatte noch am Freitag damit gedroht, das Wahlbündnis zu verlassen. Sie hatte sich am Tag zuvor, beim Treffen des Bündnisses zur internen Nominierung eines Kandidaten, mit ihren alternativen Kandidatenwünschen nicht durchsetzen können. Akşener attestierte Kılıçdaroğlu mangelndes Charisma und wenig Erfolgschancen gegen Erdoğan. Sie wünschte sich als Kandidaten stattdessen den Bürgermeister von Ankara Mansur Yavaş (ehemalig MHP, jetzt CHP) oder den Bürgermeister von İstanbul, Ekrem İmamoğlu (CHP). Sowohl Yavaş, als auch İmamoğlu lehnten aber ab und beeilten sich die Unterstützung ihres Parteivorsitzenden zu bekräftigen.

Tage voller Drama

Nach einem dramatischen Wochenende und viel Hin und Her, kamen am Montag überraschend dann doch alle sechs Parteien zur Nominierung zusammen. Akşener verhandelte zuvor einen Kompromiss mit den beiden Bürgermeistern aus. Dieser sieht vor, dass Yavaş und İmamoğlu als Vizepräsidenten kandidieren sollen, ebenso wie die Parteivorsitzenden der anderen fünf Parteien.

Mithat Sancar, der Co-Vorsitzende der drittgrößten Partei der Türkei HDP (Demokratische Partei der Völker), bestätigte, dass seine Partei überlege, auf einen eigenen Präsidentschaftskandidaten zu verzichten, auch aufgrund einer neuen Wahlstrategie nach der Erdbebenkatastrophe. Sancar wünschte Kılıçdaroğlu viel Erfolg und lud ihn zu Gesprächen in die HDP-Parteizentrale ein. Die HDP ist nicht Teil des „Tisch der Sechs“, sondern führt ein eigenes linkes Wahlbündnis an.

Was wird die HDP machen?

Es wäre durchaus denkbar, dass das HDP geführte Bündnis „Allianz für Arbeit und Freiheit“ sich darauf beschränkt, Kandidatinnen für die Parlamentswahlen aufzustellen und bei den zeitgleich stattfindenden Präsidentschaftswahlen eine Wahlempfehlung für Kılıçdaroğlu abzugeben. Das Ziel der HDP dabei sei nicht die eigene Programmatik voranzubringen oder sich gar eine Regierungsbeteiligung zu erhandeln, so Sancar. Vielmehr wolle man sicherstellen, dass die Präsidentschaftswahlen in der ersten Runde zugunsten der Opposition entschieden werde und so eine Rückkehr zu einer gefestigten Demokratie ermöglicht wird.

Die Opposition hatte angekündigt, im Falle eines Wahlsieges vom jetzigen präsidialen System zu einem gestärkten parlamentarischen System zurückzukehren. Die Position des Vize-Präsidenten würde dann wieder zum (regierenden) Ministerpräsidenten umgewandelt werden.

Wer ist Kılıçdaroğlu?

„Gandhi Kemal“ Kılıçdaroğlu (den Spitznamen hat er wegen nachgesagter äußerlicher Ähnlichkeit mit dem indischen Anführer der Bürgerrechts- und Unabhängigkeitsbewegung Mahatma Gandhi) ist ein Arbeiterkind aus Dersim, er ist Alevit und Kurde. Der Oppositionsführer der letzten Jahre, inzwischen graue Eminenz der von Atatürk gegründeten Volkspartei CHP, ist für manche ein erfolgloser und langweiliger Bürokrat, der keinen Wahlkampf führen kann. Doch andere wertschätzen seine lagerübergreifenden Ansätze. Einerseits profiliert er sich mit nationalistischen Positionen gegen Geflüchtete, andererseits versucht er an die vermeintlich sozialdemokratische Vergangenheit der CHP anzuknüpfen und befürwortet den EU-Beitritt der Türkei. So bemüht er sich derweil darum, möglichst viele politische Lager hinter sich und der Allianz zu versammeln.

„Wir alle sind der Kandidat“

Seine Rede am Montag vor der CHP-Parteizentrale war entsprechend pathetisch: „Ich bin nicht der Kandidat, wir alle sind der Kandidat.“ Er sei nicht irgendein Kandidat, sondern Repräsentant für einen Wandel. Kılıçdaroğlu nannte unter anderem die Opfer vom schweren Amasra Minenunglück 2022 und die Namen mehrerer Opfer der Erdbebenkatastrophe 2023: „Ich besuchte die Familie von Rıdvan, einem Minenarbeiter, der bei dem Grubenunglück in Bartın ums Leben kam. Emrullah, der Sohn von Rıdvan, ist der Kandidat … Der junge Mann, der sagte: ‚Meine Mutter, mein Bruder und mein Vater sind unter den Trümmern. Sie geben Geräusche von sich, die Wärmebildkamera zeigt auch Wärme an, aber es gibt keine Ausrüstung, um sie zu retten‘, ist der Kandidat. Alle unsere Erdbebenopfer sind der Kandidat.“

Titelbild: ADEM ALTAN / AFP / picturedesk.com

Gabriel Hartmann
Gabriel Hartmann
Reporter für türkisch-österreichische Gschichten. Beobachtet die Entwicklungen und den Wahlkampf in der Türkei. Dil kılıçtan keskindir.
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1 Kommentar

  1. Selbst wenn R. Erdogan abgewählt werden sollte, bleibt doch die Frage, ob eine neue Regierung, gestellt aus der derzeitigen Opposition, besser ist/wäre.

    Aussenpolitisch wird sich auch mit einer neuen Regierung nicht viel ändern. Lediglich Innenpolitisch könnte sich etwas ändern. Das hängt aber mit der Zusammensetzung der neuen Regierung zusammen. Eine neue Regierung steht vor einem riesigen Scherbenhaufen. Es bräuchte eine weniger emotionale, dafür aber eine umso risikofreudigere Regierung, um Neuerungen anzustossen und auch durchzusetzen.

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